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WIE
WIRD ERZÄHLT?
(Zeitgestaltung, Perspektiven, Darbietungsformen ...)
▪
Zeitgestaltung
in erzählenden Texten
▪
Leitfragen zur Analyse
▪
Strukturen
▪
Überblick
▪
Dauer/Erzählgeschwindigkeit
▪
Überblick
▪
Erzählzeit
▪
Erzählte Zeit
▪
Erzählgeschwindigkeit
▪
Schulische Analyse und Interpretation erzählender Texte
▪
Aspekte der schulischen
Erzähltextanalyse
▪
Kriterienkataloge der schulischen
Erzähltextanalyse »
▪
ABC der schulischen Erzähltextanalyse
»
Anhand von Auszügen aus dem
1. und
2. Kapitel von ▪
Theodor Fontanes
Novelle »Grete
Minde (1880) lässt sich
beispielhaft zeigen, wie ▪
zeitdeckendes Erzählen
in Form einer ▪
Szene
mit
kompletten Analepsen (▪
Rückwendungen) "funktioniert" und wie der Wechsel zwischen
▪
szenischem und
▪
summarischem Erzählen
(zeitraffendes Erzählen) eine Erzählung rhythmisieren kann.
(vgl.
Martínez/Scheffel 1998/2016, S.42f.)
Erstes Kapitel
Das Hänflingnest
»Weißt
du, Grete, wir haben ein Nest in unserm Garten, und ganz niedrig,
und zwei Junge drin.«
»Das wäre! Wo denn? Ist es ein Fink oder eine Nachtigall?« »Ich sag
es nicht. Du musst es raten.«
Diese Worte waren an einem überwachsenen Zaun, der zwei Nachbargärten
voneinander trennte, gesprochen worden. Die Sprechenden, ein Mädchen und
ein Knabe, ließen sich nur halb erkennen, denn so hoch sie standen, so
waren die Himbeerbüsche hüben und drüben doch noch höher und wuchsen
ihnen bis über die Brust.
»Bitte, Valtin«, fuhr das Mädchen fort, »sag es mir.«
»Rate.«
»Ich kann nicht. Und ich will auch nicht.«
»Du könntest schon, wenn du wolltest. Sieh nur«, und dabei wies er
mit dem Zeigefinger auf einen kleinen Vogel, der eben über ihre Köpfe
hinflog und
sich auf eine hohe Hanfstaude niedersetzte.
»Sieh«, wiederholte Valtin.
»Ein Hänfling?«
»Geraten.«
Der Vogel wiegte sich eine Weile, zwitscherte und flog dann wieder in
den Garten zurück, in dem er sein Nest hatte. Die beiden Kinder folgten
ihm neugierig mit ihren Augen.
»Denke dir«, sagte Grete, »ich habe noch kein Vogelnest gesehen: bloß
die zwei Schwalbennester auf unsrem Flur. Und ein Schwalbennest ist
eigentlich gar kein Nest.«
»Höre, Grete, ich glaube, da hast du recht.«
»Ein richtiges Nest, ich meine von einem Vogel, nicht ein Krähen-
oder Storchennest, das muss so weich sein wie der Flachs von Reginens
Wocken1.«
»Und so ist es auch. Komm nur. Ich zeig es dir.« Und dabei sprang er
vom Zaun in den Garten seines elterlichen Hauses zurück.
»Ich darf nicht«, sagte Grete.
»Du darfst nicht?«
»Nein, ich soll nicht. Trud ist dawider.«
»Ach Trud, Trud. Trud ist deine
Schwieger2, und eine Schwieger ist
nicht mehr als eine Schwester. Wenn ich eine Schwester hätte, die könnte
den ganzen Tag verbieten, ich tät es doch. Schwester ist Schwester.
Spring. Ich fange dich.«
»Hole die Leiter.«
»Nein, spring.«
Und sie sprang, und er fing sie geschickt in seinen Armen auf.
Jetzt erst sah man ihre Gestalt. Es war ein halbwachsenes Mädchen,
sehr zart gebaut, und ihre feinen Linien, noch mehr das Oval und die
Farbe ihres Gesichts, deuteten auf eine Fremde.
»Wie du springen kannst«, sagte Valtin, der seinerseits einen echt
märkischen Breitkopf und vorspringende Backenknochen hatte. »Du fliegst
ja nur so. Und nun komm, nun will ich dir das Nest zeigen.«
Er nahm sie bei der Hand, und zwischen Gartenbeeten hin, auf denen
Dill und Pastinak in hohen Dolden standen, führte er sie bis in den
Mittelgang, der weiter abwärts vor einer Geißblattlaube endigte.
»Ist es hier?«
»Nein, in dem Holunder.«
Und er bog ein paar Zweige zurück und wies ihr das Nest.
Grete sah neugierig hinein und wollte sich damit zu schaffen machen,
aber jetzt umkreiste sie der Vogel, und Valtin sagte: »Lass; er ängstigt
sich. Es ist wegen der Jungen; unsere Mütter sind nicht so bang um uns.«
»Ich habe keine Mutter«, erwiderte Grete scharf.
»Ich weiß«, sagte Valtin, »aber ich vergess es immer wieder. Sieht
sie doch aus, als ob sie deine Mutter wäre, versteht sich, deine
Stiefmutter. Höre, Grete, sieh dich vor. Hübsch ist sie, aber hübsch und
bös. Und du kennst doch das Märchen vom Machandelboom3?«
»Gewiss kenn ich das. Das ist ja mein Lieblingsmärchen. Und Regine
muss es mir immer wieder erzählen. Aber nun will ich zurück in unsern
Garten.«
»Nein, du musst noch bleiben. Ich freue mich immer, wenn ich dich
habe. Du bist so hübsch. Und ich bin dir so gut.«
»Ach, Narretei. Was soll ich noch bei dir?«
»Ich will dich noch ansehen. Mir ist immer so wohl und so weh, wenn
ich dich ansehe. Und weißt du, Grete, wenn du groß bist, da musst du
meine Braut werden.«
»Deine Braut?«
»Ja, meine Braut. Und dann heirat ich dich.«
»Und was machst du dann mit mir?«
»Dann stell ich dich immer auf diesen Himbeerzaun und sage ›spring‹;
und dann springst du, und ich fange dich auf, und...«
»Und?«
»Und dann küss ich dich.«
Sie sah ihn schelmisch an und sagte: »Wenn das wer hörte! Emrentz
oder Trud...«
»Ach Trud und immer Trud. Ich kann sie nicht leiden. Und nun komm und
setz dich.«
Er hatte diese Worte vor dem Laubeneingang gesprochen, an dessen
rechter Seite eine Art Gartenbank war, ein kleiner niedriger Sitzplatz,
den er sich aus vier Pflöcken und einem darübergelegten Brett selbst
zurechtgezimmert hatte. Er liebte den Platz, weil er sein eigen war und
nach dem Nachbargarten hinübersah. »Setz dich«, wiederholte er, und sie
tat's, und er rückte neben sie. So verging eine Weile. Dann zog er einen
Malvenstock aus der Erde und malte Buchstaben in den Sand.
»Lies«, sagte er. »Kannst du's?«
»Nein.«
»Dann muss ich dir sagen, Grete, dass du deinen eignen Namen nicht
lesen kannst. Es sind fünf Buchstaben, und es heißt Grete.«
»Ach, griechisch«, lachte diese. »Nun merk ich erst; ich soll dich
bewundern. Hatt es ganz vergessen. Du gehörst ja zu den sieben, die seit
Ostern zum alten Gigas gehen. Ist er denn so streng?«
»Ja und nein.«
[...]
Zweites Kapitel
Trud und Emrentz
In den Gärten war alles still, und doch waren sie belauscht worden.
Eine schöne, junge Frau, Frau Trud Minde, modisch gekleidet, aber mit
strengen Zügen, war, während die beiden noch plauderten, über den Hof
gekommen und hatte sich hinter einem Weinspalier versteckt, das den
geräumigen, mit Gebäuden umstandenen Mindeschen Hof von dem etwas
niedriger gelegenen Garten trennte. Sechs Stufen führten hinunter.
Nichts war ihr hier entgangen, und die widerstreitendsten Gefühle, nur
keine freundlichen, hatten sich in ihrer Brust gekreuzt. Grete war noch
ein Kind, so sagte sie sich, und alles, was sie von ihrem Versteck aus
gesehen hatte, war nichts als ein kindisches Spiel. Es war nichts und es
bedeutete nichts. Und doch, es war Liebe, die Liebe, nach der sie sich
selber sehnte und an der ihr Leben arm war bis diesen Tag. Sie war nun
eines reichen Mannes ehelich Weib; aber nie, soweit sie zurückdenken
mochte, hatte sie lachend und plaudernd auf einer Gartenbank gesessen,
nie war ein frisches, junges Blut um ihretwillen in einen Baumwipfel
gestiegen und hatte sie dann kindlich unschuldig umarmt und geküsst. Das
Blut stieg ihr zu Kopf, und Neid und Missgunst zehrten an ihrem Herzen.
Sie wartete, bis Grete wieder diesseits war, und ging dann raschen
Schrittes über den Hof auf Flur und Straße zu, um nebenan ihre
Muhme4
Zernitz, des alten Ratsherrn Zernitz zweite Frau und Valtins
Stiefmutter, aufzusuchen. In der Tür des Nachbarhauses traf sie Valtin,
der beiseite trat, um ihr Platz zu machen. Denn sie
war in Staat5, in
hoher Stehkrause und goldner Kette.
»Guten Tag, Valtin. Ist Emrentz zu Haus? Ich meine deine Mutter.«
»Ich denke, ja. Oben.«
»Dann geh hinauf und sag ihr, dass ich da bin.«
»Geh nur selbst. Sie hat es nicht gern, wenn ich in ihre Stube
komme.«
Es klang etwas spöttisch. Aber Trud, erregt wie sie war, hatte dessen
nicht acht und ging, an Valtin vorüber, in den ersten Stock hinauf,
dessen große Hinterstube der gewöhnliche Aufenthalt der Frau Zernitz
war. Das nach vorn zu gelegene Zimmer von gleicher Größe, das keine
Sonne, dafür aber viele hohe Lehnstühle und grünverhangene
Familienbilder hatte, war ihr zu trist und öde. Zudem war es das Wohn-
und Lieblingszimmer der ersten Frau Zernitz gewesen, einer steifen und
langweiligen Frau, von der sie lachend als von ihrer »Vorgängerin im
Amt« zu sprechen pflegte.
Trud, ohne zu klopfen, trat ein und war überrascht von dem
freundlichen Bilde, das sich ihr darbot. Alle drei Flügel des breiten
Mittelfensters standen auf, die Sonne schien, und an dem offenen Fenster
vorbei schossen die Schwalben. Über die Kissen des Himmelbetts, dessen
hellblaue Vorhänge zurückgeschlagen waren, waren Spitzentücher
gebreitet, und vom Hof herauf hörte man das Gackern der Hühner und das
helle Krähen des Hahns. [...]"
(Quelle: Theodor
Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Band 3, Berlin und
Weimar 21973, S. 7-12.
Permalink:
http://www.zeno.org/nid/20004775813 ) - gemeinfrei
Worterklärungen:
1 Wocken: Spinngerät
sowie die davon abzuspinnende Menge Flachs
2 Schwieger: Schwägerin;
Schwägerin von der etwa 14-jährigen Grete Minde, die nach dem Tode ihres
Vaters wie eine Dienstbotin im Haus ihrer Schwägerin Trude lebt.
3 »Märchen
vom Manchandelboom (vom Wachholderbaum): "Die fromme Frau eines
reichen Mannes wünscht sich beim Schälen eines Apfels unter dem
Wacholderbaum, wobei sie sich in den Finger schneidet, ein Kind so rot
wie das Blut und so weiß wie der Schnee. Sie wird schwanger, stirbt bei
der Geburt des Sohnes und wird unter dem Baum begraben. Nach der Trauer
heiratet der Mann eine Frau, die mit ihm eine Tochter hat, aber den
Stiefsohn hasst. Als einmal die Tochter einen Apfel will, bekommt sie
ihn zunächst. Als sie aber darum bittet, dass ihr Bruder auch einen
bekommt, nimmt die Mutter der Tochter den Apfel weg, um erst dem Bruder
einen anzubieten. Als dieser sich aber in die Truhe mit den Äpfeln
bückt, schlägt die Stiefmutter ihm mit dem Deckel den Kopf ab.
Erschrocken setzt sie ihn wieder auf, bindet ein Halstuch um und setzt
ihn mit dem Apfel in der Hand vors Haus. Sie veranlasst die Tochter, ihm
eine Ohrfeige zu geben, da er nicht antwortet, so dass der Kopf abfällt.
Das Mädchen ist zutiefst bestürzt, die Mutter aber bereitet aus der
Leiche des Knaben eine Mahlzeit, und die Tochter weint hinein. Der Vater
ist traurig, als er hört, sein Sohn sei plötzlich zu Verwandten
weggegangen, isst aber mit besonderer Hingabe die ganze Suppe.
Die Tochter sammelt die Knochen und legt sie weinend in ein Seidentuch
unter dem Baum. Da wird ihr leicht zumute, die Wacholderzweige bewegen
sich wie Hände, und aus einem Feuer im Nebel fliegt ein schöner
singender Vogel. Die Knochen sind weg. Der Vogel singt auf dem Dach
eines Goldschmieds, eines Schusters und auf dem Lindenbaum vor einer
Mühle. Für die Wiederholung des Liedes verlangt er eine Goldkette, rote
Schuhe und einen Mühlstein. Dann singt er zu Hause auf dem
Wacholderbaum, wodurch dem Vater wohl und der Mutter angst wird. Er
wirft dem Vater die Kette um den Hals und der Schwester wirft er die
Schuhe zu. Beide freuen sich darüber, sodass auch die Mutter hinausgeht;
ihr wirft der Vogel jedoch den Mühlstein auf den Kopf und erschlägt sie
damit. Da ersteht aus Dampf und Flamme der Sohn wieder, und der Vater
und die Kinder setzen sich vergnügt zum Essen." (Seite !Von dem
Machandelboom“" In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie.
Bearbeitungsstand: 16. April 2022, 16:34 UTC. URL:
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Von_dem_Machandelboom&oldid=222121330
(Abgerufen: 5. Juni 2022, 07:16 UTC)
4 Muhme: meistens Schwester der
Mutter oder des Vaters, meistens Tante mütterlicherseits
5 in Staat sein:
kleidungsmäßig fein herausgeputzt, um Eindruck zu machen
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.01.2024