Die ▪ Handlung von
▪ Friedrich Dürrenmatts Drama ▪ "Der
Besuch der alten Dame" lässt sich als ein Prozess auf zwei Ebenen
auffassen.Die Tatsache, dass "Claire die Rückkehr in ihren Heimatort am Ende des
ersten Aktes als Prozess inszeniert" (Mayer
51991, S.39), hat in der Literaturwissenschaft zu der
Interpretation geführt, dass es sich dabei um einen "Prozess
auf zwei Ebenen" (Durzak
1972, S.93-95, Hervorh. d. Verf.) handle:
"Ein Teil dieses Prozesses ist
auf die Vergangenheit gerichtet. Ein »Fehlurteil im Jahre 1910« (S.34) soll
aufgedeckt und die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden. Auf der
zweiten Prozess-Ebene weist Claires Forderung an die Güllener, Ill gegen
eine Milliarde zu töten, in die Zukunft. Das heißt, der ursprünglich nur
gegen Ill gerichtete Prozess wird damit auch auf die Gesellschaft
übertragen, die seinen Betrug möglich machte. [...] Dass es Claire nicht
lediglich um die Wiederaufnahme des Prozesses gegen Ill geht, sondern um die
Inkriminierung einer »Welt«, sagt sie selbst eindeutig genug: »Die Welt
machte mich zu einer Hure, nun mache ich sie zu einem Bordell.« (S.69)" (Mayer
51991, S.39)
Dabei lässt sich der Nachweis von Schuld auf beiden Ebenen auf
unterschiedliche Art und Weise führen.
Alfred Ills persönliche
Schuld
wird, auch wenn sein Vergehen inzwischen 45 Jahre zurückliegt und strafrechtlich
verjährt ist, durch die als Prozess Ende des ersten Aktes von Claire und
einem Teil ihrer Begleitung in Szene gesetzten (Wiederaufnahme-)Prozess
gegen ihn überhaupt nicht in Frage gestellt.
Sie wird bewiesen durch die ▪
Vernehmung von
Koby und Loby und auch von dem "Angeklagten" Ill als solche überhaupt nicht in Frage gestellt.
Er hat die beiden, später im Auftrag von
Claire Zachanassian kastrierten und geblendeten Zeugen von damals, Koby
(ehemals Ludwig Sparr) und Loby (ehemals Jakob Hühnlein) für eine
Falschaussage bestochen. Mit dieser Falschaussage konnte er sich der Verantwortung für das von
Claire Zachanassian (ehemals Klara Wäscher) erwartete gemeinsame Kind im
Rahmen des ihr angestrengten Vaterschaftsprozess entziehen.
Weit schwieriger hingegen gestaltet sich das Problem, wie der solche
Fehlurteile zulassenden Gesellschaft der Prozess gemacht werden kann, der
sich um die Frage dreht: "Wie lässt sich die Schuld einer ganzen Stadt, eine
Kollektivschuld also, unter Beweis
stellen?" (Mayer
51991, S.39, Hervorh. d. Verf.)
Ills persönliche Schuld steht im Grunde genommen schon vor der eigentlichen
Bühnenhandlung fest und wird Ende des 1. Aktes in der von Claire
inszenierten Gerichtsverhandlung gegen ihn als Angeklagten und mit ihr
selbst als Klägerin für alle öffentlich bewiesen.
Der Nachweis einer Schuld
der Güllener als Kollektiv, die Claire Zachanassian voraussetzt, erfolgt
nicht durch deren in und um das Fehlurteil von 1910 tatsächliches Handeln.
Stattdessen wird ihre kollektive Schuld durch den Nachweis ihrer "Käuflichkeit und Bestechlichkeit" als
Kollektiv im Zuge der Bühnenhandlung bewiesen. Die Schuld des Güllener
Kollektivs "(steht) "derjenigen Ills, als er
Claire und ihr Kind mit Hilfe falscher Zeugen vertrieb, nicht nach(...)." (ebd.)
Was der Prozess auf beiden Ebenen damit beweist, ist, dass die Gesellschaft,
d.h. die Güllener, mit ihren Institutionen versagt hat. Zugleich
wird demonstriert, dass sie zugleich alle jene
kriminellen Verhaltensweisen erst hervorbringt, ja immer wieder
reproduziert, auch wenn sie darüber ein dichtes Gewebe ideologischer
Verblendung spinnt.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.01.2024