Den 20. Jänner ging Lenz
durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler
hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen.
Es war nasskalt; das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über
den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am
Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht – und dann dampfte der
Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg,
so plump.
Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald
abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm,
dass er nicht auf dem Kopf gehn konnte.
Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der
graue Wald sich unter ihm schüttelte und der Nebel die Formen bald
verschlang, bald die gewaltigen Glieder halb enthüllte; es drängte in
ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlornen Träumen, aber er fand
nichts. Es war ihm alles so klein, so nahe, so nass; er hätte die Erde
hinter den Ofen setzen mögen. Er begriff nicht, dass er so viel Zeit
brauchte, um einen Abhang hinunter zu klimmen, einen fernen Punkt zu
erreichen; er meinte, er müsse alles mit ein paar Schritten ausmessen
können. Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Täler warf und es
den Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald
wie fern verhallende Donner und dann gewaltig heranbrausten, in Tönen,
als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen,[85] und die
Wolken wie wilde, wiehernde Rosse heransprengten, und der Sonnenschein
dazwischen durchging und kam und sein blitzendes Schwert an den
Schneeflächen zog, so dass ein helles, blendendes Licht über die Gipfel
in die Täler schnitt; oder wenn der Sturm das Gewölk abwärts trieb und
einen lichtblauen See hineinriss und dann der Wind verhallte und tief
unten aus den Schluchten, aus den Wipfeln der Tannen wie ein Wiegenlied
und Glockengeläute heraufsummte, und am tiefen Blau ein leises Rot
hinaufklomm und kleine Wölkchen auf silbernen Flügeln durchzogen, und
alle Berggipfel, scharf und fest, weit über das Land hin glänzten und
blitzten – riss es ihm in der Brust, er stand, keuchend, den Leib
vorwärts gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den
Sturm in sich ziehen, alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag
über der Erde, er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die
ihm wehe tat; oder er stand still und legte das Haupt ins Moos und
schloss die Augen halb, und dann zog es weit von ihm, die Erde wich
unter ihm, sie wurde klein wie ein wandelnder Stern und tauchte sich in
einen brausenden Strom, der seine klare Flut unter ihm zog. Aber es
waren nur Augenblicke; und dann erhob er sich nüchtern, fest, ruhig, als
wäre ein Schattenspiel vor ihm vorübergezogen – er wusste von nichts
mehr.
Gegen Abend kam er auf die Höhe des Gebirgs, auf das Schneefeld, von wo
man wieder hinabstieg in die Ebene nach Westen. Er setzte sich oben
nieder. Es war gegen Abend ruhiger geworden; das Gewölk lag fest und
unbeweglich am Himmel; soweit der Blick reichte, nichts als Gipfel, von
denen sich breite Flächen hinabzogen, und alles so still, grau,
dämmernd. Es wurde ihm entsetzlich einsam; er war allein, ganz allein.
Er wollte mit sich sprechen, aber er konnte nicht, er wagte kaum zu
atmen; das Biegen seines Fußes tönte wie Donner unter ihm, er musste
sich niedersetzen. Es fasste ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts:
er war im Leeren! Er riss sich auf und flog den Abhang hinunter.[86]
Es war finster geworden, Himmel und Erde verschmolzen in eins. Es war,
als ginge ihm was nach und als müsse ihn was Entsetzliches erreichen,
etwas, das Menschen nicht ertragen können, als jage der Wahnsinn auf
Rossen hinter ihm.
Endlich hörte er Stimmen; er sah Lichter, es wurde ihm leichter. Man
sagte ihm, er hätte noch eine halbe Stunde nach Waldbach.
Er ging durch das Dorf. Die Lichter schienen durch die Fenster, er sah
hinein im Vorbeigehen: Kinder am Tische, alte Weiber, Mädchen, alles
ruhige, stille Gesichter. Es war ihm, als müsse das Licht von ihnen
ausstrahlen; es ward ihm leicht, er war bald in Waldbach im Pfarrhause.
Man saß am Tische, er hinein; die blonden Locken hingen ihm um das
bleiche Gesicht, es zuckte ihm in den Augen und um den Mund, seine
Kleider waren zerrissen.
Oberlin hieß ihn willkommen, er hielt ihn für einen Handwerker: »Sein
Sie mir willkommen, obschon Sie mir unbekannt.« – »Ich bin ein Freund
von Kaufmann und bringe Ihnen Grüße von ihm.« – »Der Name, wenn's
beliebt?« – »Lenz.« – »Ha, ha, ha, ist er nicht gedruckt? Habe ich nicht
einige Dramen gelesen, die einem Herrn dieses Namens zugeschrieben
werden?« – »Ja, aber belieben Sie, mich nicht darnach zu beurteilen.«
Man sprach weiter, er suchte nach Worten und erzählte rasch, aber auf
der Folter; nach und nach wurde er ruhig – das heimliche Zimmer und die
stillen Gesichter, die aus dem Schatten hervortraten: das helle
Kindergesicht, auf dem alles Licht zu ruhen schien und das neugierig,
vertraulich aufschaute, bis zur Mutter, die hinten im Schatten
engelgleich stille saß. Er fing an zu erzählen, von seiner Heimat; er
zeichnete allerhand Trachten, man drängte sich teilnehmend um ihn, er
war gleich zu Haus. Sein blasses Kindergesicht, das jetzt lächelte, sein
lebendiges Erzählen! Er wurde ruhig; es war ihm, als träten alte
Gestalten, vergessene Gesichter wieder aus dem Dunkeln, alte Lieder
wachten auf, er war weg, weit weg.[87]
Endlich war es Zeit zum Gehen. Man führte ihn über die Straße: das
Pfarrhaus war zu eng, man gab ihm ein Zimmer im Schulhause. Er ging
hinauf. Es war kalt oben, eine weite Stube, leer, ein hohes Bett im
Hintergrund. Er stellte das Licht auf den Tisch und ging auf und ab. Er
besann sich wieder auf den Tag, wie er hergekommen, wo er war. Das
Zimmer im Pfarrhause mit seinen Lichtern und lieben Gesichtern, es war
ihm wie ein Schatten, ein Traum, und es wurde ihm leer, wieder wie auf
dem Berg; aber er konnte es mit nichts mehr ausfüllen, das Licht war
erloschen, die Finsternis verschlang alles. Eine unnennbare Angst
erfasste ihn. Er sprang auf, er lief durchs Zimmer, die Treppe hinunter,
vors Haus; aber umsonst, alles finster, nichts – er war sich selbst ein
Traum. Einzelne Gedanken huschten auf, er hielt sie fest; es war ihm,
als müsse er immer ›Vater unser‹ sagen. Er konnte sich nicht mehr
finden; ein dunkler Instinkt trieb ihn, sich zu retten. Er stieß an die
Steine, er riss sich mit den Nägeln; der Schmerz fing an, ihm das
Bewusstsein wiederzugeben. Er stürzte sich in den Brunnenstein, aber das
Wasser war nicht tief, er patschte darin.
Da kamen Leute; man hatte es gehört, man rief ihm zu. Oberlin kam
gelaufen. Lenz war wieder zu sich gekommen, das ganze Bewusstsein seiner
Lage stand vor ihm, es war ihm wieder leicht. Jetzt schämte er sich und
war betrübt, dass er den guten Leuten Angst gemacht; er sagte ihnen,
dass er gewohnt sei, kalt zu baden, und ging wieder hinauf; die
Erschöpfung ließ ihn endlich ruhen.
Den andern Tag ging es gut. Mit Oberlin zu Pferde durch das Tal: breite
Bergflächen, die aus großer Höhe sich in ein schmales, gewundnes Tal
zusammenzogen, das in mannigfachen Richtungen sich hoch an den Bergen
hinaufzog; große Felsenmassen, die sich nach unten ausbreiteten; wenig
Wald, aber alles im grauen, ernsten Anflug; eine Aussicht nach Westen in
das Land hinein und auf die Bergkette, die sich grad hinunter nach Süden
und Norden zog und deren Gipfel gewaltig,[88] ernsthaft oder schweigend
still, wie ein dämmernder Traum, standen. Gewaltige Lichtmassen, die
manchmal aus den Tälern, wie ein goldner Strom, schwollen, dann wieder
Gewölk, das an dem höchsten Gipfel lag und dann langsam den Wald herab
in das Tal klomm oder in den Sonnenblitzen sich wie ein fliegendes,
silbernes Gespenst herabsenkte und hob; kein Lärm, keine Bewegung, kein
Vogel, nichts als das bald nahe, bald ferne Wehn des Windes. Auch
erschienen Punkte, Gerippe von Hütten, Bretter mit Stroh gedeckt, von
schwarzer, ernster Farbe. Die Leute, schweigend und ernst, als wagten
sie die Ruhe ihres Tales nicht zu stören, grüßten ruhig, wie sie
vorbeiritten.
In den Hütten war es lebendig: man drängte sich um Oberlin, er wies
zurecht, gab Rat, tröstete; überall zutrauensvolle Blicke, Gebet. Die
Leute erzählten Träume, Ahnungen. Dann rasch ins praktische Leben: Wege
angelegt, Kanäle gegraben, die Schule besucht.
Oberlin war unermüdlich, Lenz fortwährend sein Begleiter, bald in
Gespräch, bald tätig am Geschäft, bald in die Natur versunken. Es wirkte
alles wohltätig und beruhigend auf ihn. Er musste Oberlin oft in die
Augen sehen, und die mächtige Ruhe, die uns über der ruhenden Natur, im
tiefen Wald, in mondhellen, schmelzenden Sommernächten überfällt, schien
ihm noch näher in diesem ruhigen Auge, diesem ehrwürdigen ernsten
Gesicht. Er war schüchtern; aber er machte Bemerkungen, er sprach.
Oberlin war sein Gespräch sehr angenehm, und das anmutige Kindergesicht
Lenzens machte ihm große Freude.
Aber nur solange das Licht im Tale lag, war es ihm erträglich; gegen
Abend befiel ihn eine sonderbare Angst, er hätte der Sonne nachlaufen
mögen. Wie die Gegenstände nach und nach schattiger wurden, kam ihm
alles so traumartig, so zuwider vor: es kam ihm die Angst an wie
Kindern, die im Dunkeln schlafen; es war ihm, als sei er blind. Jetzt
wuchs sie, der Alp des Wahnsinns setzte sich zu seinen Füßen: der
rettungslose[89] Gedanke, als sei alles nur sein Traum, öffnete sich vor
ihm; er klammerte sich an alle Gegenstände. Gestalten zogen rasch an ihm
vorbei, er drängte sich an sie; es waren Schatten, das Leben wich aus
ihm, und seine Glieder waren ganz starr. Er sprach, er sang, er
rezitierte Stellen aus Shakespeare, er griff nach allem, was sein Blut
sonst hatte rascher fließen machen, er versuchte alles, aber – kalt,
kalt! Er musste dann hinaus ins Freie. Das wenige, durch die Nacht
zerstreute Licht, wenn seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt waren,
machte ihm besser; er stürzte sich in den Brunnen, die grelle Wirkung
des Wassers machte ihm besser; auch hatte er eine geheime Hoffnung auf
eine Krankheit – er verrichtete sein Baden jetzt mit weniger Geräusch.
Doch je mehr er sich in das Leben hineinlebte, ward er ruhiger. Er
unterstützte Oberlin, zeichnete, las die Bibel; alte, vergangne
Hoffnungen gingen in ihm auf; das Neue Testament trat ihm hier so
entgegen... Wie Oberlin ihm erzählte, wie ihn eine unsichtbare Hand auf
der Brücke gehalten hätte, wie auf der Höhe ein Glanz seine Augen
geblendet hatte, wie er eine Stimme gehört hätte, wie es in der Nacht
mit ihm gesprochen, und wie Gott so ganz bei ihm eingekehrt, dass er
kindlich seine Lose aus der Tasche holte, um zu wissen, was er tun
sollte: dieser Glaube, dieser ewige Himmel im Leben, dieses Sein in Gott
– jetzt erst ging ihm die Heilige Schrift auf. Wie den Leuten die Natur
so nah trat, alles in himmlischen Mysterien; aber nicht gewaltsam
majestätisch, sondern noch vertraut.
Eines Morgens ging er hinaus. Die Nacht war Schnee gefallen; Im Tal lag
heller Sonnenschein, aber weiterhin die Landschaft halb im Nebel. Er kam
bald vom Weg ab und eine sanfte Höhe hinauf, keine Spur von Fußtritten
mehr, neben einem Tannenwald hin; die Sonne schnitt Kristalle, der
Schnee war leicht und flockig, hie und da Spur von Wild leicht auf dem
Schnee, die sich ins Gebirg hinzog. Keine Regung in der Luft als ein
leises Wehen, als das Rauschen eines Vogels, der die Flocken[90] leicht
vom Schwanze stäubte. Alles so still, und die Bäume weithin mit
schwankenden weißen Federn in der tiefblauen Luft. Es wurde ihm heimlich
nach und nach. Die einförmigen, gewaltigen Flächen und Linien, vor denen
es ihm manchmal war, als ob sie ihn mit gewaltigen Tönen anredeten,
waren verhüllt; ein heimliches Weihnachtsgefühl beschlich ihn: er meinte
manchmal, seine Mutter müsse hinter einem Baume hervortreten, groß, und
ihm sagen, sie hatte ihm dies alles beschert. Wie er hinunterging, sah
er, dass um seinen Schatten sich ein Regenbogen von Strahlen legte; es
wurde ihm, als hätte ihn was an der Stirn berührt, das Wesen sprach ihn
an.
Er kam hinunter. Oberlin war im Zimmer; Lenz kam heiter auf ihn zu und
sagte ihm, er möge wohl einmal predigen. – »Sind Sie Theologe?«- »Ja!« –
»Gut, nächsten Sonntag.«
Lenz ging vergnügt auf sein Zimmer. Er dachte auf einen Text zum
Predigen und verfiel in Sinnen, und seine Nächte wurden ruhig. Der
Sonntagmorgen kam, es war Tauwetter eingefallen. Vorüberstreifende
Wolken, Blau dazwischen. Die Kirche lag neben am Berg hinauf, auf einem
Vorsprung; der Kirchhof drumherum. Lenz stand oben, wie die Glocke
läutete und die Kirchengänger, die Weiber und Mädchen in ihrer ernsten
schwarzen Tracht, das weiße gefaltete Schnupftuch auf dem Gesangbuch und
den Rosmarinzweig, von den verschiedenen Seiten die schmalen Pfade
zwischen den Felsen herauf- und herabkamen. Ein Sonnenblick lag manchmal
über dem Tal, die laue Luft regte sich langsam, die Landschaft schwamm
im Duft, fernes Geläute – es war, als löste sich alles in eine
harmonische Welle auf.
Auf dem kleinen Kirchhof war der Schnee weg, dunkles Moos unter den
schwarzen Kreuzen; ein verspäteter Rosenstrauch lehnte an der
Kirchhofmauer, verspätete Blumen dazu unter dem Moos hervor; manchmal
Sonne, dann wieder dunkel. Die Kirche fing an, die Menschenstimmen
begegneten sich im reinen hellen Klang; ein Eindruck als schaue man in
reines, durchsichtiges Bergwasser. Der Gesang verhallte –[91] Lenz
sprach. Er war schüchtern; unter den Tönen hatte sein Starrkrampf sich
ganz gelegt, sein ganzer Schmerz wachte jetzt auf und legte sich in sein
Herz. Ein süßes Gefühl unendlichen Wohls beschlich ihn. Er sprach
einfach mit den Leuten; sie litten alle mit ihm, und es war ihm ein
Trost, wenn er über einige müdgeweinte Augen Schlaf und gequälten Herzen
Ruhe bringen, wenn er über dieses von materiellen Bedürfnissen gequälte
Sein, diese dumpfen Leiden gen Himmel leiten konnte. Er war fester
geworden, wie er schloss – da fingen die Stimmen wieder an:
Lass in mir die heilgen
Schmerzen,
Tiefe Bronnen ganz aufbrechen;
Leiden sei all mein Gewinst,
Leiden sei mein Gottesdienst.
Das Drängen in ihm, die
Musik, der Schmerz, erschütterte ihn. Das All war für ihn in Wunden; er
fühlte tiefen, unnennbaren Schmerz davon. Jetzt ein anderes Sein:
göttliche, zuckende Lippen bückten sich über ihm nieder und sogen sich
an seine Lippen; er ging auf sein einsames Zimmer. Er war allein,
allein! Da rauschte die Quelle, Ströme brachen aus seinen Augen, er
krümmte sich in sich, es zuckten seine Glieder, es war ihm, als müsse er
sich auflösen, er konnte kein Ende finden der Wollust. Endlich dämmerte
es in ihm: er empfand ein leises tiefes Mitleid mit sich selbst, er
weinte über sich; sein Haupt sank auf die Brust, er schlief ein. Der
Vollmond stand am Himmel; die Locken fielen ihm über die Schläfe und das
Gesicht, die Tränen hingen ihm an den Wimpern und trockneten auf den
Wangen – so lag er nun da allein, und alles war ruhig und still und
kalt, und der Mond schien die ganze Nacht und stand über den Bergen.
Am folgenden Morgen kam er herunter, er erzählte Oberlin ganz ruhig, wie
ihm die Nacht seine Mutter erschienen sei: sie sei in einem weißen Kleid
aus der dunkeln Kirchhofmauer hervorgetreten und habe eine weiße und
eine rote Rose an der Brust stecken gehabt; sie sei dann in eine Ecke
gesunken,[92] und die Rosen seien langsam über sie gewachsen, sie sei
gewiss tot; er sei ganz ruhig darüber. Oberlin versetzte ihm nun, wie er
bei dem Tod seines Vaters allein auf dem Felde gewesen sei und er dann
eine Stimme gehört habe, so dass er wusste, dass sein Vater tot sei; und
wie er heimgekommen, sei es so gewesen. Das führte sie weiter: Oberlin
sprach noch von den Leuten im Gebirge, von Mädchen, die das Wasser und
Metall unter der Erde fühlten, von Männern, die auf manchen Berghöhen
angefasst würden und mit einem Geiste rängen; er sagte ihm auch, wie er
einmal im Gebirg durch das Schauen in ein leeres tiefes Bergwasser in
eine Art von Somnambulismus versetzt worden sei. Lenz sagte, dass der
Geist des Wassers über ihn gekommen sei, dass er dann etwas von seinem
eigentümlichen Sein empfunden hätte. Er fuhr weiter fort: Die
einfachste, reinste Natur hinge am nächsten mit der elementarischen
zusammen; je feiner der Mensch geistig fühlt und lebt, um so
abgestumpfter würde dieser elementarische Sinn; er halte ihn nicht für
einen hohen Zustand, er sei nicht selbständig genug, aber er meine, es
müsse ein unendliches Wonnegefühl sein, so von dem eigentümlichen Leben
jeder Form berührt zu werden, für Gesteine, Metalle, Wasser und Pflanzen
eine Seele zu haben, so traumartig jedes Wesen in der Natur in sich
aufzunehmen, wie die Blumen mit dem Zu- und Abnehmen des Mondes die
Luft.
Er sprach sich selbst weiter aus: wie in allem eine unaussprechliche
Harmonie, ein Ton, eine Seligkeit sei, die in den höhern Formen mit mehr
Organen aus sich herausgriffe, tönte, auffasste und dafür aber auch um
so tiefer affiziert würde; wie in den niedrigen Formen alles
zurückgedrängter, beschränkter, dafür aber auch die Ruhe in sich größer
sei. Er verfolgte das noch weiter. Oberlin brach es ab, es führte ihn zu
weit von seiner einfachen Art ab. Ein ander Mal zeigte ihm Oberlin
Farbentäfelchen, er setzte ihm auseinander, in welcher Beziehung jede
Farbe mit dem Menschen stände; er brachte zwölf Apostel heraus, deren
jeder durch eine Farbe repräsentiert[93] würde. Lenz fasste das auf, er
spann die Sache weiter, kam in ängstliche Träume und fing an, wie
Stilling, die Apokalypse zu lesen, und las viel in der Bibel.
Um diese Zeit kam Kaufmann mit seiner Braut ins Steintal. Lenzen war
anfangs das Zusammentreffen unangenehm; er hatte sich so ein Plätzchen
zurechtgemacht, das bisschen Ruhe war ihm so kostbar – und jetzt kam ihm
jemand entgegen, der ihn an so vieles erinnerte, mit dem er sprechen,
reden musste, der seine Verhältnisse kannte. Oberlin wusste von allem
nichts; er hatte ihn aufgenommen, gepflegt, er sah es als eine Schickung
Gottes, der den Unglücklichen ihm zugesandt hätte, er liebte ihn
herzlich. Auch war es allen notwendig, dass er da war; er gehörte zu
ihnen, als wäre er schon längst da, und niemand frug, woher er gekommen
und wohin er gehen werde.
Über Tisch war Lenz wieder in guter Stimmung: man sprach von Literatur,
er war auf seinem Gebiete. Die idealistische Periode fing damals an;
Kaufmann war ein Anhänger davon, Lenz widersprach heftig. Er sagte: Die
Dichter, von denen man sage, sie geben die Wirklichkeit, hätten auch
keine Ahnung davon; doch seien sie immer noch erträglicher als die,
welche die Wirklichkeit verklären wollten. Er sagte: Der liebe Gott hat
die Welt wohl gemacht, wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was
Besseres klecksen; unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig
nachzuschaffen. Ich verlange in allem – Leben, Möglichkeit des Daseins,
und dann ist's gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es
hässlich ist. Das Gefühl, dass, was geschaffen sei, Leben habe, stehe
über diesen beiden und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen.
Übrigens begegne es uns nur selten: in Shakespeare finden wir es, und in
den Volksliedern tönt es einem ganz, in Goethe manchmal entgegen; alles
übrige kann man ins Feuer werfen. Die Leute können auch keinen
Hundsstall zeichnen. Da wollte man idealistische Gestalten, aber alles,
was ich davon gesehen, sind Holzpuppen. Dieser Idealismus ist die
schmählichste Verachtung der menschlichen Natur. Man versuche[94] es
einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder in
den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten
Mienenspiel; er hätte dergleichen versucht im ›Hofmeister‹ und den
›Soldaten‹. Es sind die prosaischsten Menschen unter der Sonne; aber die
Gefühlsader ist in fast allen Menschen gleich, nur ist die Hülle mehr
oder weniger dicht, durch die sie brechen muss. Man muss nur Aug und
Ohren dafür haben. Wie ich gestern neben am Tal hinaufging, sah ich auf
einem Steine zwei Mädchen sitzen: die eine band ihr Haar auf, die andre
half ihr; und das goldne Haar hing herab, und ein ernstes bleiches
Gesicht, und doch so jung, und die schwarze Tracht, und die andre so
sorgsam bemüht. Die schönsten, innigsten Bilder der altdeutschen Schule
geben kaum eine Ahnung davon. Man möchte manchmal ein Medusenhaupt sein,
um so eine Gruppe in Stein verwandeln zu können, und den Leuten zurufen.
Sie standen auf, die schöne Gruppe war zerstört; aber wie sie so
hinabstiegen, zwischen den Felsen, war es wieder ein anderes Bild.
Die schönsten Bilder, die schwellendsten Töne gruppieren, lösen sich
auf. Nur eins bleibt: eine unendliche Schönheit, die aus einer Form in
die andre tritt, ewig aufgeblättert, verändert. Man kann sie aber
freilich nicht immer festhalten und in Museen stellen und auf Noten
ziehen, und dann alt und jung herbeirufen und die Buben und Alten
darüber radotieren und sich entzücken lassen. Man muss die Menschheit
lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen; es darf einem
keiner zu gering, keiner zu hässlich sein, erst dann kann man sie
verstehen; das unbedeutendste Gesicht macht einen tiefern Eindruck als
die bloße Empfindung des Schönen, und man kann die Gestalten aus sich
heraustreten lassen, ohne etwas vom Äußern hinein zu kopieren, wo einem
kein Leben, keine Muskeln, kein Puls entgegenschwillt und pocht.
Kaufmann warf ihm vor, dass er in der Wirklichkeit doch keine Typen für
einen Apoll von Belvedere oder eine Raffaelische Madonna finden würde.
Was liegt daran, versetzte er; ich muß[95] gestehen, ich fühle mich
dabei sehr tot. Wenn ich in mir arbeite, kann ich auch wohl was dabei
fühlen, aber ich tue das Beste daran. Der Dichter und Bildende ist mir
der liebste, der mir die Natur am wirklichsten gibt, so dass ich über
seinem Gebild fühle; alles übrige stört mich. Die holländischen Maler
sind mir lieber als die italienischen, sie sind auch die einzigen
fasslichen. Ich kenne nur zwei Bilder, und zwar von Niederländern, die
mir einen Eindruck gemacht hätten wie das Neue Testament: das eine ist,
ich weiß nicht von wem, Christus und die Jünger von Emmaus. Wenn man so
liest, wie die Jünger hinausgingen, es liegt gleich die ganze Natur in
den paar Worten. Es ist ein trüber, dämmernder Abend, ein einförmiger
roter Streifen am Horizont, halbfinster auf der Straße; da kommt ein
Unbekannter zu ihnen, sie sprechen, er bricht das Brot; da erkennen sie
ihn, in einfach-menschlicher Art, und die göttlich-leidenden Züge reden
ihnen deutlich, und sie erschrecken, denn es ist finster geworden, und
es tritt sie etwas Unbegreifliches an; aber es ist kein gespenstisches
Grauen, es ist, wie wenn einem ein geliebter Toter in der Dämmerung in
der alten Art entgegenträte: so ist das Bild mit dem einförmigen,
bräunlichen Ton darüber, dem trüben stillen Abend. Dann ein anderes:
Eine Frau sitzt in ihrer Kammer, das Gebetbuch in der Hand. Es ist
sonntäglich aufgeputzt, der Sand gestreut, so heimlich rein und warm.
Die Frau hat nicht zur Kirche gekonnt, und sie verrichtet die Andacht zu
Haus; das Fenster ist offen, sie sitzt darnach hingewandt, und es ist,
als schwebten zu dem Fenster über die weite ebne Landschaft die
Glockentöne von dem Dorfe herein und verhallet der Sang der nahen
Gemeinde aus der Kirche her, und die Frau liest den Text nach.
In der Art sprach er weiter; man horchte auf, es traf vieles. Er war rot
geworden über dem Reden, und bald lächelnd, bald ernst schüttelte er die
blonden Locken. Er hatte sich ganz vergessen.
Nach dem Essen nahm ihn Kaufmann beiseite. Er hatte Briefe von Lenzens
Vater erhalten, sein Sohn sollte zurück, ihn unterstützen.[96] Kaufmann
sagte ihm, wie er sein Leben hier verschleudre, unnütz verliere, er
solle sich ein Ziel stecken, und dergleichen mehr. Lenz fuhr ihn an:
»Hier weg, weg? nach Haus? Toll werden dort? Du weißt, ich kann es
nirgends aushalten als da herum, in der Gegend. Wenn ich nicht manchmal
auf einen Berg könnte und die Gegend sehen könnte, und dann wieder
herunter ins Haus, durch den Garten gehn und zum Fenster hineinsehn –
ich würde toll! toll! Lasst mich doch in Ruhe! Nur ein bisschen Ruhe
jetzt, wo es mir ein wenig wohl wird! Weg, weg? Ich verstehe das nicht,
mit den zwei Worten ist die Welt verhunzt. Jeder hat was nötig; wenn er
ruhen kann, was könnt er mehr haben! Immer steigen, ringen und so in
Ewigkeit alles, was der Augenblick gibt, wegwerfen und immer darben, um
einmal zu genießen! Dürsten, während einem helle Quellen über den Weg
springen! Es ist mir jetzt erträglich, und da will ich bleiben. Warum?
warum? Eben weil es mir wohl ist. Was will mein Vater? Kann er mehr
geben? Unmöglich! Lasst mich in Ruhe!« – Er wurde heftig; Kaufmann ging,
Lenz war verstimmt.
Am folgenden Tag wollte Kaufmann weg. Er beredete Oberlin, mit ihm in
die Schweiz zu gehen. Der Wunsch, Lavater, den er längst durch Briefe
kannte, auch persönlich kennen zu, lernen, bestimmte ihn. Er sagte es
zu. Man musste einen Tag länger wegen der Zurüstungen warten. Lenz fiel
das aufs Herz. Er hatte, um seiner unendlichen Qual los zu werden, sich
ängstlich an alles geklammert; er fühlte in einzelnen Augenblicken tief,
wie er sich alles nur zurechtmache; er ging mit sich um wie mit einem
kranken Kinde. Manche Gedanken, mächtige Gefühle wurde er nur mit der
größten Angst los; da trieb es ihn wieder mit unendlicher Gewalt darauf,
er zitterte, das Haar sträubte ihm fast, bis er es in der ungeheuersten
Anspannung erschöpfte. Er rettete sich in eine Gestalt, die ihm immer
vor Augen schwebte, und in Oberlin; seine Worte, sein Gesicht taten ihm
unendlich wohl. So sah er mit Angst seiner Abreise entgegen.[97]
Es war Lenzen unheimlich, jetzt allein im Hause zu bleiben. Das Wetter
war milde geworden: er beschloss, Oberlin zu begleiten, ins Gebirg. Auf
der andern Seite, wo die Täler sich in die Ebne ausliefen, trennten sie
sich. Er ging allein zurück. Er durchstrich das Gebirg in verschiedenen
Richtungen. Breite Flächen zogen sich in die Täler herab, wenig Wald,
nichts als gewaltige Linien und weiter hinaus die weite, rauchende Ebne;
in der Luft ein gewaltiges Wehen, nirgends eine Spur von Menschen, als
hie und da eine verlassene Hütte, wo die Hirten den Sommer zubrachten,
an den Abhängen gelehnt. Er wurde still, vielleicht fast träumend: es
verschmolz ihm alles in eine Linie, wie eine steigende und sinkende
Welle, zwischen Himmel und Erde; es war ihm, als läge er an einem
unendlichen Meer, das leise auf und ab wogte. Manchmal saß er; dann ging
er wieder, aber langsam träumend. Er suchte keinen Weg.
Es war finstrer Abend, als er an eine bewohnte Hütte kam, im Abhang nach
dem Steintal. Die Türe war verschlossen; er ging ans Fenster, durch das
ein Lichtschimmer fiel. Eine Lampe erhellte fast nur einen Punkt: ihr
Licht fiel auf das bleiche Gesicht eines Mädchens, das mit halb
geöffneten Augen, leise die Lippen bewegend, dahinter ruhte. Weiter weg
im Dunkel saß ein altes Weib, das mit schnarrender Stimme aus einem
Gesangbuch sang. Nach langem Klopfen öffnete sie; sie war halb taub. Sie
trug Lenz einiges Essen auf und wies ihm eine Schlafstelle an, wobei sie
beständig ihr Lied fortsang. Das Mädchen hatte sich nicht gerührt.
Einige Zeit darauf kam ein Mann herein; er war lang und hager, Spuren
von grauen Haaren, mit unruhigem, verwirrtem Gesicht. Er trat zum
Mädchen, sie zuckte auf und wurde unruhig. Er nahm ein getrocknetes
Kraut von der Wand und legte ihr die Blätter auf die Hand, so dass sie
ruhiger wurde und verständliche Worte in langsam ziehenden,
durchschneiden den Tönen summte. Er erzählte, wie er eine Stimme im
Gebirge gehört und dann über den Tälern ein Wetterleuchten gesehen habe;
auch habe es ihn angefasst, und er habe damit gerungen wie Jakob. Er[98]
warf sich nieder und betete leise mit Inbrunst, während die Kranke in
einem langsam ziehenden, leise verhallenden Ton sang. Dann gab er sich
zur Ruhe.
Lenz schlummerte träumend ein, und dann hörte er im Schlaf, wie die Uhr
pickte. Durch das leise Singen des Mädchens und die Stimme der Alten
zugleich tönte das Sausen des Windes, bald näher, bald ferner, und der
bald helle, bald verhüllte Mond warf sein wechselndes Licht traumartig
in die Stube. Einmal wurden die Töne lauter, das Mädchen redete deutlich
und bestimmt: sie sagte, wie auf der Klippe gegenüber eine Kirche stehe.
Lenz sah auf, und sie saß mit weitgeöffneten Augen aufrecht hinter dem
Tisch, und der Mond warf sein stilles Licht auf ihre Züge, von denen ein
unheimlicher Glanz zu strahlen schien; zugleich schnarrte die Alte, und
über diesem Wechseln und Sinken des Lichts, den Tönen und Stimmen
schlief endlich Lenz tief ein.
Er erwachte früh. In der dämmernden Stube schlief alles, auch das
Mädchen war ruhig geworden. Sie lag zurückgelehnt, die Hände gefaltet
unter der linken Wange; das Geisterhafte aus ihren Zügen war
verschwunden, sie hatte jetzt einen Ausdruck unbeschreiblichen Leidens.
Er trat ans Fenster und öffnete es, die kalte Morgenluft schlug ihm
entgegen. Das Haus lag am Ende eines schmalen, tiefen Tales, das sich
nach Osten öffnete; rote Strahlen schossen durch den grauen Morgenhimmel
in das dämmernde Tal, das im weißen Rauch lag, und funkelten am grauen
Gestein und trafen in die Fenster der Hütten. Der Mann erwachte. Seine
Augen trafen auf ein erleuchtet Bild an der Wand, sie richteten sich
fest und starr darauf; nun fing er an, die Lippen zu bewegen, und betete
leise, dann laut und immer lauter. Indem kamen Leute zur Hütte herein,
sie warfen sich schweigend nieder. Das Mädchen lag in Zuckungen, die
Alte schnarrte ihr Lied und plauderte mit den Nachbarn.
Die Leute erzählten Lenzen, der Mann sei vor langer Zeit in die Gegend
gekommen, man wisse nicht woher; er stehe im[99] Ruf eines Heiligen, er
sehe das Wasser unter der Erde und könne Geister beschwören, und man
wallfahre zu ihm. Lenz erfuhr zugleich, dass er weiter vom Steintal
abgekommen; er ging weg mit einigen Holzhauern, die in die Gegend
gingen. Es tat ihm wohl, Gesellschaft zu finden; es war ihm jetzt
unheimlich mit dem gewaltigen Menschen, von dem es ihm manchmal war, als
rede er in entsetzlichen Tönen. Auch fürchtete er sich vor sich selbst
in der Einsamkeit.
Er kam heim. Doch hatte die verflossene Nacht einen gewaltigen Eindruck
auf ihn gemacht. Die Welt war ihm helle gewesen, und er spürte an sich
ein Regen und Wimmeln nach einem Abgrund, zu dem ihn eine unerbittliche
Gewalt hinriss. Er wühlte jetzt in sich. Er aß wenig; halbe Nächte im
Gebet und fieberhaften Träumen. Ein gewaltsames Drängen, und dann
erschöpft zurückgeschlagen; er lag in den heißesten Tränen. Und dann
bekam er plötzlich eine Stärke und erhob sich kalt und gleichgültig;
seine Tränen waren ihm dann wie Eis, er musste lachen. Je höher er sich
aufriss, desto tiefer stürzte er hinunter. Alles strömte wieder
zusammen. Ahnungen von seinem alten Zustande durchzuckten ihn und warfen
Streiflichter in das wüste Chaos seines Geistes.
Des Tags saß er gewöhnlich unten im Zimmer. Madame Oberlin ging ab und
zu; er zeichnete, malte, las, griff nach jeder Zerstreuung, alles hastig
von einem zum andern. Doch schloss er sich jetzt besonders an Madame
Oberlin an, wenn sie so dasaß, das schwarze Gesangbuch vor sich, neben
eine Pflanze, im Zimmer gezogen, das jüngste Kind zwischen den Knieen;
auch machte er sich viel mit dem Kinde zu tun. So saß er einmal, da
wurde ihm ängstlich, er sprang auf, ging auf und ab. Die Tür halb offen
– da hörte er die Magd singen, erst unverständlich, dann kamen die
Worte:
Auf dieser Welt hab ich
kein Freud,
Ich hab mein Schatz, und der ist weit.
Das fiel auf ihn, er
verging fast unter den Tönen. Madame Oberlin sah ihn an. Er fasste sich
ein Herz, er konnte nicht[100] mehr schweigen, er musste davon sprechen.
»Beste Madame Oberlin, können Sie mir nicht sagen, was das Frauenzimmer
macht, dessen Schicksal mir so zentnerschwer auf dem Herzen liegt?« –
»Aber Herr Lenz, ich weiß von nichts.«
Er schwieg dann wieder und ging hastig im Zimmer auf und ab; dann fing
er wieder an: »Sehn Sie, ich will gehen; Gott, Sie sind noch die
einzigen Menschen, wo ich's aushalten könnte, und doch – doch, ich muss
weg, zu ihr – aber ich kann nicht, ich darf nicht.« – Er war heftig
bewegt und ging hinaus.
Gegen Abend kam Lenz wieder, es dämmerte in der Stube; er setzte sich
neben Madame Oberlin. »Sehn Sie,« fing er wieder an, »wenn sie so durchs
Zimmer ging und so halb für sich allein sang, und jeder Tritt war eine
Musik, es war so eine Glückseligkeit in ihr, und das strömte in mich
über; ich war immer ruhig, wenn ich sie ansah oder sie so den Kopf an
mich lehnte ... Ganz Kind; es war, als wär ihr die Welt zu weit: sie zog
sich so in sich zurück, sie suchte das engste Plätzchen im ganzen Haus,
und da saß sie, als wäre ihre ganze Seligkeit nur in einem kleinen
Punkt, und dann war mir's auch so; wie ein Kind hätte ich dann spielen
können. Jetzt ist es mir so eng, so eng! Sehn Sie, es ist mir manchmal,
als stieß, ich mit den Händen an den Himmel; o, ich ersticke! Es ist mir
dabei oft, als fühlt ich physischen Schmerz, da in der linken Seite, im
Arm, womit ich sie sonst fasste. Doch kann ich sie mir nicht mehr
vorstellen, das Bild läuft mir fort, und dies martert mich; nur wenn es
mir manchmal ganz hell wird, so ist mir wieder recht wohl.« – Er sprach
später noch oft mit Madame Oberlin davon, aber meist in abgebrochenen
Sätzen; sie wusste wenig zu antworten, doch tat es ihm wohl.
Unterdessen ging es fort mit seinen religiösen Quälereien. Je leerer, je
kälter, je sterbender er sich innerlich fühlte, desto mehr drängte es
ihn, eine Glut in sich zu wecken; es kamen ihm Erinnerungen an die
Zeiten, wo alles in ihm sich drängte, wo er unter all seinen
Empfindungen keuchte. Und jetzt so tot. Er verzweifelte an sich selbst;
dann warf er sich nieder, er[101] rang die Hände, er rührte alles in
sich auf- aber tot! tot! Dann flehte er, Gott möge ein Zeichen an ihm
tun; dann wühlte er in sich, fastete, lag träumend am Boden.
Am 3. Hornung hörte er, ein Kind in Fouday sei gestorben, das Friederike
hieß; er fasste es auf wie eine fixe Idee. Er zog sich in sein Zimmer
und fastete einen Tag. Am 4. trat er plötzlich ins Zimmer zu Madame
Oberlin; er hatte sich das Gesicht mit Asche beschmiert und forderte
einen alten Sack. Sie erschrak; man gab ihm, was er verlangte. Er
wickelte den Sack um sich, wie ein Büßender, und schlug den Weg nach
Fouday ein. Die Leute im Tale waren ihn schon gewohnt; man erzählte sich
allerlei Seltsames von ihm. Er kam ins Haus, wo das Kind lag. Die Leute
gingen gleichgültig ihrem Geschäfte nach; man wies ihm eine Kammer: das
Kind lag im Hemde auf Stroh, auf einem Holztisch.
Lenz schauderte, wie er die kalten Glieder berührte und die
halbgeöffneten gläsernen Augen sah. Das Kind kam ihm so verlassen vor,
und er sich so allein und einsam. Er warf sich über die Leiche nieder.
Der Tod erschreckte ihn, ein heftiger Schmerz fasste ihn an: diese Züge,
dieses stille Gesicht sollte verwesen – er warf sich nieder; er betete
mit allem Jammer der Verzweiflung, dass Gott ein Zeichen an ihm tue und
das Kind beleben möge ...; dann sank er ganz in sich und wühlte all
seinen Willen auf einen Punkt. So saß er lange starr. Dann erhob er sich
und fasste die Hände des Kindes und sprach laut und fest: »Stehe auf und
wandle!« Aber die Wände hallten ihm nüchtern den Ton nach, dass es zu
spotten schien, und die Leiche blieb kalt. Da stürzte er halb wahnsinnig
nieder; dann jagte es ihn auf, hinaus ins Gebirg.
Wolken zogen rasch über den Mond; bald alles im Finstern, bald zeigten
sie die nebelhaft verschwindende Landschaft im Mondschein. Er rannte auf
und ab. In seiner Brust war ein Triumphgesang der Hölle. Der Wind klang
wie ein Titanenlied. Es war ihm, als könnte er eine ungeheure Faust
hinauf in den Himmel ballen und Gott herbeireißen und zwischen
seinen[102] Wolken schleifen; als könnte er die Welt mit den Zähnen
zermalmen und sie dem Schöpfer ins Gesicht speien; er schwur, er
lästerte. So kam er auf die Höhe des Gebirges, und das ungewisse Licht
dehnte sich hinunter, wo die weißen Steinmassen lagen, und der Himmel
war ein dummes blaues Aug, und der Mond stand ganz lächerlich drin,
einfältig. Lenz musste laut lachen, und mit dem Lachen griff der
Atheismus in ihn und fasste ihn ganz sicher und ruhig und fest. Er
wusste nicht mehr, was ihn vorhin so bewegt hatte, es fror ihn; er
dachte, er wolle jetzt zu Bette gehn, und er ging kalt und
unerschütterlich durch das unheimliche Dunkel – es war ihm alles leer
und hohl, er musste laufen und ging zu Bette.
Am folgenden Tag befiel ihn ein großes Grauen vor seinem gestrigen
Zustand. Er stand nun am Abgrund, wo eine wahnsinnige Lust ihn trieb,
immer wieder hineinzuschauen und sich diese Qual zu wiederholen. Dann
steigerte sich seine Angst, die Sünde wider den Heiligen Geist stand vor
ihm.
Einige Tage darauf kam Oberlin aus der Schweiz zurück, viel früher, als
man es erwartet hatte. Lenz war darüber betroffen. Doch wurde er heiter,
als Oberlin ihm von seinen Freunden im Elsass erzählte. Oberlin ging
dabei im Zimmer hin und her und packte aus, legte hin. Dabei erzählte er
von Pfeffel, das Leben eines Landgeistlichen glücklich preisend. Dabei
ermahnte er ihn, sich in den Wunsch seines Vaters zu fügen, seinem
Berufe gemäß zu leben, heimzukehren. Er sagte ihm: »Ehre Vater und
Mutter!« und dergleichen mehr. Über dem Gespräch geriet Lenz in heftige
Unruhe; er stieß tiefe Seufzer aus, Tränen drangen ihm aus den Augen, er
sprach abgebrochen. »Ja, ich halt es aber nicht aus; wollen Sie mich
verstoßen? Nur in Ihnen ist der Weg zu Gott. Doch mit mir ist's aus! Ich
bin abgefallen, verdammt in Ewigkeit, ich bin der Ewige Jude.« Oberlin
sagte ihm, dafür sei Jesus gestorben; er möge sich brünstig an ihn
wenden, und er würde teilhaben an seiner Gnade.[103]
Lenz erhob das Haupt, rang die Hände und sagte: »Ach! ach! göttlicher
Trost – .« Dann frug er plötzlich freundlich, was das Frauenzimmer
mache. Oberlin sagte, er wisse von nichts, er wolle ihm aber in allem
helfen und raten; er müsse ihm aber Ort, Umstände und Person angeben. Er
antwortete nichts wie gebrochne Worte: »Ach, ist sie tot? Lebt sie noch?
Der Engel! Sie liebte mich – ich liebte sie, sie war's würdig – o der
Engel! Verfluchte Eifersucht, ich habe sie aufgeopfert – sie liebte noch
einen andern – ich liebte sie, sie war's würdig – o gute Mutter, auch
die liebte mich – ich bin euer Mörder!« Oberlin versetzte: vielleicht
lebten alle diese Personen noch, vielleicht vergnügt; es möge sein, wie
es wolle, so könne und werde Gott, wenn er sich zu ihm bekehrt haben
würde, diesen Personen auf sein Gebet und Tränen so viel Gutes erweisen,
dass der Nutzen, den sie alsdann von ihm hätten, den Schaden, den er
ihnen zugefügt, vielleicht überwiegen würde. Er wurde darauf nach und
nach ruhiger und ging wieder an sein Malen.
Den Nachmittag kam er wieder. Auf der linken Schulter hatte er ein Stück
Pelz und in der Hand ein Bündel Gerten, die man Oberlin nebst einem
Briefe für Lenz mitgegeben hatte. Er reichte Oberlin die Gerten mit dem
Begehren, er sollte ihn damit schlagen. Oberlin nahm die Gerten aus
seiner Hand, drückte ihm einige Küsse auf den Mund und sagte: dies wären
die Streiche, die er ihm zu geben hätte; er möchte ruhig sein, seine
Sache mit Gott allein ausmachen, alle möglichen Schläge würden keine
einzige seiner Sünden tilgen; dafür hätte Jesus gesorgt, zu dem möchte
er sich wenden. Er ging.
Beim Nachtessen war er wie gewöhnlich etwas tiefsinnig. Doch sprach er
von allerlei, aber mit ängstlicher Hast. Um Mitternacht wurde Oberlin
durch ein Geräusch geweckt. Lenz rannte durch den Hof, rief mit hohler,
harter Stimme den Namen Friederike, mit äußerster Schnelle, Verwirrung
und Verzweiflung ausgesprochen; er stürzte sich dann in den Brunnentrog,
patschte darin, wieder heraus und herauf in sein Zimmer, wieder herunter
in den Trog, und so einige Mal –[104] endlich wurde er still. Die Mägde,
die in der Kinderstube unter ihm schliefen, sagten, sie hätten oft,
insonderheit aber in selbiger Nacht, ein Brummen gehört, das sie mit
nichts als mit dem Tone einer Haberpfeife zu vergleichen wüssten.
Vielleicht war es sein Winseln, mit hohler, fürchterlicher,
verzweifelnder Stimme.
Am folgenden Morgen kam Lenz lange nicht. Endlich ging Oberlin hinauf in
sein Zimmer: er lag im Bett, ruhig und unbeweglich. Oberlin musste lange
fragen, ehe er Antwort bekam; endlich sagte er »Ja, Herr Pfarrer, sehen
Sie, die Langeweile! die Langeweile! o, so langweilig! Ich weiß gar
nicht mehr, was ich sagen soll; ich habe schon allerlei Figuren an die
Wand gezeichnet.« Oberlin sagte ihm, er möge sich zu Gott wenden; da
lachte er und sagte: »Ja, wenn ich so glücklich wäre wie Sie, einen so
behaglichen Zeitvertreib aufzufinden, ja, man könnte sich die Zeit schon
so ausfüllen. Alles aus Müßiggang. Denn die meisten beten aus
Langeweile, die andern verlieben sich aus Langeweile, die dritten sind
tugendhaft, die vierten lasterhaft, und ich gar nichts, gar nichts, ich
mag mich nicht einmal umbringen: es ist zu langweilig!
O Gott! in deines
Lichtes Welle,
In deines glühnden Mittags Helle,
Sind meine Augen wund gewacht.
Wird es denn niemals wieder Nacht?«
Oberlin blickte ihn
unwillig an und wollte gehen. Lenz huschte ihm nach, und indem er ihn
mit unheimlichen Augen ansah: »Sehn Sie, jetzt kommt mir doch was ein,
wenn ich nur unterscheiden könnte, ob ich träume oder wache; sehn Sie,
das ist sehr wichtig, wir wollen es untersuchen«- er huschte dann wieder
ins Bett.
Den Nachmittag wollte Oberlin in der Nähe einen Besuch machen; seine
Frau war schon fort. Er war im Begriff wegzugehen, als es an seine Türe
klopfte und Lenz hereintrat mit vorwärts gebogenem Leib, niederwärts
hängendem Haupt, das Gesicht über und über und das Kleid hie und da mit
Asche bestreut,[105] mit der rechten Hand den linken Arm haltend. Er bat
Oberlin, ihm den Arm zu ziehen: er hätte ihn verrenkt, er hätte sich zum
Fenster heruntergestürzt; weil es aber niemand gesehen, wolle er es auch
niemand sagen. Oberlin erschrak heftig, doch sagte er nichts; er tat,
was Lenz begehrte. Zugleich schrieb er an den Schulmeister Sebastian
Scheidecker von Bellefosse, er möge herunterkommen, und gab ihm
Instruktionen. Dann ritt er weg.
Der Mann kam. Lenz hatte ihn schon oft gesehen und hatte sich an ihn
attachiert. Er tat, als hätte er mit Oberlin etwas reden wollen, wollte
dann wieder weg. Lenz bat ihn zu bleiben, und so blieben sie beisammen.
Lenz schlug noch einen Spaziergang nach Fouday vor. Er besuchte das Grab
des Kindes, das er hatte erwecken wollen, kniete zu verschiedenen Malen
nieder, küsste die Erde des Grabes, schien betend, doch mit großer
Verwirrung, riss etwas von der auf dem Grab stehenden Krone ab, als ein
Andenken, ging wieder zurück nach Waldbach, kehrte wieder um, und
Sebastian mit. Bald ging er langsam und klagte über große Schwäche in
den Gliedern, dann ging er mit verzweifelnder Schnelligkeit; die
Landschaft beängstigte ihn, sie war so eng, dass er an alles zu stoßen
fürchtete. Ein unbeschreibliches Gefühl des Missbehagens befiel ihn;
sein Begleiter ward ihm endlich lästig, auch mochte er seine Absicht
erraten und suchte Mittel, ihn zu entfernen. Sebastian schien ihm
nachzugeben, fand aber heimlich Mittel, seinen Bruder von der Gefahr zu
benachrichtigen, und nun hatte Lenz zwei Aufseher, statt einen. Er zog
sie wacker herum; endlich ging er nach Waldbach zurück, und da sie nahe
am Dorfe waren, kehrte er wie ein Blitz wieder um und sprang wie ein
Hirsch gen Fouday zurück. Die Männer setzten ihm nach. Indem sie ihn in
Fouday suchten, kamen zwei Krämer und erzählten ihnen, man hätte in
einem Hause einen Fremden gebunden, der sich für einen Mörder ausgäbe,
der aber gewiss kein Mörder sein könne. Sie liefen in dies Haus und
fanden es so. Ein junger Mensch hatte ihn, auf sein ungestümes
Dringen,[106] in der Angst gebunden. Sie banden ihn los und brachten ihn
glücklich nach Waldbach, wohin Oberlin indessen mit seiner Frau
zurückgekommen war. Er sah verwirrt aus. Da er aber merkte, dass er
liebreich und freundlich empfangen wurde, bekam er wieder Mut; sein
Gesicht veränderte sich vorteilhaft, er dankte seinen beiden Begleitern
freundlich und zärtlich, und der Abend ging ruhig herum. Oberlin bat ihn
inständig, nicht mehr zu baden, die Nacht ruhig im Bette zu bleiben, und
wenn er nicht schlafen könne, sich mit Gott zu unterhalten. Er
versprach's und tat es so die folgende Nacht; die Mägde hörten ihn fast
die ganze Nacht hindurch beten.
Den folgenden Morgen kam er mit vergnügter Miene auf Oberlins Zimmer.
Nachdem sie verschiedenes gesprochen hatten, sagte er mit ausnehmender
Freundlichkeit: »Liebster Herr Pfarrer, das Frauenzimmer, wovon ich
Ihnen sagte, ist gestorben, ja, gestorben – der Engel!« – »Woher wissen
Sie das?« – »Hieroglyphen, Hieroglyphen!« und dann zum Himmel geschaut
und wieder: »Ja, gestorben – Hieroglyphen!« Es war dann nichts weiter
aus ihm zu bringen. Er setzte sich und schrieb einige Briefe, gab sie
sodann Oberlin mit der Bitte, einige Zeilen dazu zu setzen.
Sein Zustand war indessen immer trostloser geworden. Alles, was er an
Ruhe aus der Nahe Oberlins und aus der Stille des Tals geschöpft hatte,
war weg; die Welt, die er hatte nutzen wollen, hatte einen ungeheuern
riss; er hatte keinen Hass, keine Liebe, keine Hoffnung – eine
schreckliche Leere, und doch eine folternde Unruhe, sie auszufüllen. Er
hatte nichts. Was er tat, tat er nicht mit Bewusstsein, und doch zwang
ihn ein innerlicher Instinkt. Wenn er allein war, war es ihm so
entsetzlich einsam, dass er beständig laut mit sich redete, rief, und
dann erschrak er wieder, und es war ihm, als hätte eine fremde Stimme
mit ihm gesprochen. Im Gespräch stockte er oft, eine unbeschreibliche
Angst befiel ihn, er hatte das Ende seines Satzes verloren; dann meinte
er, er müsse das zuletzt gesprochene Wort behalten und immer sprechen,
nur mit großer Anstrengung[107] unterdrückte er diese Gelüste. Es
bekümmerte die guten Leute tief, wenn er manchmal in ruhigen
Augenblicken bei ihnen saß und unbefangen sprach, und er dann stockte
und eine unaussprechliche Angst sich in seinen Zügen malte, er die
Personen, die ihm zunächst saßen, krampfhaft am Arm fasste und erst nach
und nach wieder zu sich kam. War er allein oder las er, war's noch
ärger; all seine geistige Tätigkeit blieb manchmal in einem Gedanken
hängen. Dachte er an eine fremde Person, oder stellte er sie sich
lebhaft vor, so war es ihm, als würde er sie selbst; er verwirrte sich
ganz, und dabei hatte er einen unendlichen Trieb, mit allem um ihn im
Geiste willkürlich umzugehen – die Natur, Menschen, nur Oberlin
ausgenommen, alles traumartig, kalt. Er amüsierte sich, die Häuser auf
die Dächer zu stellen, die Menschen an- und auszukleiden, die
wahnwitzigsten Possen auszusinnen. Manchmal fühlte er einen
unwiderstehlichen Drang, das Ding, das er gerade im Sinne hatte,
auszuführen, und dann schnitt er entsetzliche Fratzen. Einst saß er
neben Oberlin, die Katze lag gegenüber auf einem Stuhl. Plötzlich wurden
seine Augen starr, er hielt sie unverrückt auf das Tier gerichtet; dann
glitt er langsam den Stuhl herunter, die Katze ebenfalls: sie war wie
bezaubert von seinem Blick, sie geriet in ungeheure Angst, sie sträubte
sich scheu; Lenz mit den nämlichen Tönen, mit fürchterlich entstelltem
Gesicht; wie in Verzweiflung stürzten beide aufeinander los – da endlich
erhob sich Madame Oberlin, um sie zu trennen. Dann war er wieder tief
beschämt. Die Zufälle des Nachts steigerten sich aufs schrecklichste.
Nur mit der größten Mühe schlief er ein, während er zuvor noch die
schreckliche Leere zu füllen versucht hatte. Dann geriet er zwischen
Schlaf und Wachen in einen entsetzlichen Zustand: er stieß an etwas
Grauenhaftes, Entsetzliches, der Wahnsinn packte ihn; er fuhr mit
fürchterlichem Schreien, in Schweiß gebadet, auf, und erst nach und nach
fand er sich wieder. Er musste dann mit den einfachsten Dingen anfangen,
um wieder zu sich zu kommen. Eigentlich nicht er selbst tat es,
sondern[108] ein mächtiger Erhaltungstrieb: es war, als sei er doppelt,
und der eine Teil suche den andern zu retten und riefe sich selbst zu;
er erzählte, er sagte in der heftigsten Angst Gedichte her, bis er
wieder zu sich kam.
Auch bei Tage bekam er diese Zufälle, sie waren dann noch schrecklicher;
denn sonst hatte ihn die Helle davor bewahrt. Es war ihm dann, als
existiere er allein, als bestünde die Welt nur in seiner Einbildung, als
sei nichts als er; er sei das ewig Verdammte, der Satan, allein mit
seinen folternden Vorstellungen. Er jagte mit rasender Schnelligkeit
sein Leben durch, und dann sagte er: »Konsequent, konsequent«; wenn
jemand was sprach: »Inkonsequent, inkonsequent«; – es war die Kluft
unrettbaren Wahnsinns, eines Wahnsinns durch die Ewigkeit.
Der Trieb der geistigen Erhaltung jagte ihn auf: er stürzte sich in
Oberlins Arme, er klammerte sich an ihn, als wolle er sich in ihn
drängen; er war das einzige Wesen, das für ihn lebte und durch den ihm
wieder das Leben offenbart wurde. Allmählich brachten ihn Oberlins Worte
dann zu sich; er lag auf den Knieen vor Oberlin, seine Hände in den
Händen Oberlins, sein mit kaltem Schweiß bedecktes Gesicht auf dessen
Schoß, am ganzen Leibe bebend und zitternd. Oberlin empfand unendliches
Mitleid, die Familie lag auf den Knieen und betete für den
Unglücklichen, die Mägde flohen und hielten ihn für einen Besessenen.
Und wenn er ruhiger wurde, war es wie der Jammer eines Kindes: er
schluchzte, er empfand ein tiefes, tiefes Mitleid mit sich selbst; das
waren auch seine seligsten Augenblicke. Oberlin sprach ihm von Gott.
Lenz wand sich ruhig los und sah ihn mit einem Ausdruck unendlichen
Leidens an, und sagte endlich: »Aber ich wär ich allmächtig, sehen Sie,
wenn ich so wäre, ich könnte das Leiden nicht ertragen, ich würde
retten, retten; ich will ja nichts als Ruhe, Ruhe, nur ein wenig Ruhe,
um schlafen zu können.« Oberlin sagte, dies sei eine Profanation. Lenz
schüttelte trostlos mit dem Kopfe.[109]
Die halben Versuche zum Entleiben, die er indes fortwährend machte,
waren nicht ganz ernst. Es war weniger der Wunsch des Todes – für ihn
war ja keine Ruhe und Hoffnung im Tode –, es war mehr in Augenblicken
der fürchterlichsten Angst oder der dumpfen, ans Nichtsein grenzenden
Ruhe ein Versuch, sich zu sich selbst zu bringen durch physischen
Schmerz. Augenblicke, worin sein Geist sonst auf irgendeiner
wahnwitzigen Idee zu reiten schien, waren noch die glücklichsten. Es war
doch ein wenig Ruhe, und sein wirrer Blick war nicht so entsetzlich als
die nach Rettung dürstende Angst, die ewige Qual der Unruhe! Oft schlug
er sich den Kopf an die Wand oder verursachte sich sonst einen heftigen
physischen Schmerz.
Den 8. morgens blieb er im Bette, Oberlin ging hinauf; er lag fast nackt
auf dem Bette und war heftig bewegt. Oberlin wollte ihn zudecken, er
klagte aber sehr, wie schwer alles sei, so schwer! er glaube gar nicht,
dass er gehen könne; jetzt endlich empfinde er die ungeheure Schwere der
Luft. Oberlin sprach ihm Mut zu. Er blieb aber in seiner frühern Lage
und blieb den größten Teil des Tages so, auch nahm er keine Nahrung zu
sich.
Gegen Abend wurde Oberlin zu einem Kranken nach Bellefosse gerufen. Es
war gelindes Wetter und Mondschein. Auf dem Rückweg begegnete ihm Lenz.
Er schien ganz vernünftig und sprach ruhig und freundlich mit Oberlin.
Der bat ihn, nicht zu weit zu gehen; er versprach's. Im Weggehn wandte
er sich plötzlich um und trat wieder ganz nahe zu Oberlin und sagte
rasch: »Sehn Sie, Herr Pfarrer, wenn ich das nur nicht mehr hören
müsste, mir wäre geholfen.«-»Was denn, mein Lieber?« – »Hören Sie denn
nichts? hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen
Horizont schreit und die man gewöhnlich die Stille heißt? Seit ich in
dem stillen Tal bin, hör ich's immer, es lässt mich nicht schlafen; ja,
Herr Pfarrer, wenn ich wieder einmal schlafen könnte!« Er ging dann
kopfschüttelnd weiter.[110]
Oberlin ging zurück nach Waldbach und wollte ihm jemand nachschicken,
als er ihn die Stiege herauf in sein Zimmer gehen hörte. Einen
Augenblick darauf platzte etwas im Hof mit so starkem Schall, dass es
Oberlin unmöglich von dem Fall eines Menschen herkommen zu können
schien. Die Kindsmagd kam todblass und ganz zitternd ...
Er saß mit kalter
Resignation im Wagen, wie sie das Tal hervor nach Westen fuhren. Es war
ihm einerlei, wohin man ihn führte. Mehrmals, wo der Wagen bei dem
schlechten Wege in Gefahr geriet, blieb er ganz ruhig sitzen; er war
vollkommen gleichgültig. In diesem Zustand legte er den Weg durchs
Gebirg zurück. Gegen Abend waren sie im Rheintale. Sie entfernten sich
allmählich vom Gebirg, das nun wie eine tiefblaue Kristallwelle sich in
das Abendrot hob, und auf deren warmer Flut die roten Strahlen des
Abends spielten; über die Ebene hin am Fuße des Gebirgs lag ein
schimmerndes, bläuliches Gespinst. Es wurde finster, je mehr sie sich
Straßburg näherten; hoher Vollmond, alle fernen Gegenstände dunkel, nur
der Berg neben bildete eine scharfe Linie; die Erde war wie ein goldner
Pokal, über den schäumend die Goldwellen des Mondes liefen. Lenz starrte
ruhig hinaus, keine Ahnung, kein Drang; nur wuchs eine dumpfe Angst in
ihm, je mehr die Gegenstände sich in der Finsternis verloren. Sie
mussten einkehren. Da machte er wieder mehrere Versuche, Hand an sich zu
legen, war aber zu scharf bewacht.
Am folgenden Morgen, bei trübem, regnerischem Wetter, trat er in
Straßburg ein. Er schien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten. Er tat
alles, wie es die andern taten; es war aber eine entsetzliche Leere in
ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen, sein Dasein war ihm
eine notwendige Last. –
So lebte er hin ...
(aus: Georg Büchner: Werke und Briefe. Frankfurt a.M. 131979, S. 85-111,
in der Rechtschreibung an die moderne Rechtschreibung behutsam
angepasst)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
20.12.2023