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Textauswahl

Lenz im Gebirge

Georg Büchner (1813-1837): Lenz


FAChbereich Deutsch
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Raumgestaltung in erzählenden Texten (Textauswahl)
• Aspekte der Erzähltextanalyse

Den 20. Januar ging Lenz durch’s Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war nasskalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn konnte. Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der graue Wald sich unter ihm schüttelte, und der Nebel die Formen bald verschlang, bald die gewaltigen Glieder halb enthüllte; es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlornen Träumen, aber er fand nichts. Es war ihm alles so klein, so nahe, so nass, er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen, er begriff nicht, dass er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang hinunter zu klimmen, einen fernen Punkt zu erreichen; er meinte, er müsse alles mit ein paar Schritten ausmessen können. Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Täler warf, und es den Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern verhallende Donner, und dann gewaltig heranbrausten, in Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen, und die Wolken wie wilde wiehernde Rosse heransprengten, und der Sonnenschein dazwischen durchging und kam und sein blitzendes Schwert an den Schneeflächen zog, so dass ein helles, blendendes Licht über die Gipfel in die Täler schnitt; oder wenn der Sturm das Gewölk abwärts trieb und einen lichtblauen See hineinriss, und dann der Wind verhallte und tief unten aus den Schluchten, aus den Wipfeln der Tannen wie ein Wiegenlied und Glockengeläute heraufsummte, und am tiefen Blau ein leises Rot hinaufklomm, und kleine Wölkchen auf silbernen Flügeln durchzogen und alle Berggipfel scharf und fest, weit über das Land hin glänzten und blitzten, riss es ihm in der Brust, er stand, keuchend, den Leib vorwärts gebogen. Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe tat; oder er stand still und legte das Haupt in’s Moos und schloss die Augen halb, und dann zog es weit von ihm, die Erde wich unter ihm, sie wurde klein wie ein wandelnder Stern und tauchte sich in einen brausenden Strom, der seine klare Flut unter ihm zog. Aber es waren nur Augenblicke, und dann erhob er sich nüchtern, fest, ruhig, als wäre ein Schattenspiel vor ihm vorübergezogen, er wusste von nichts mehr. Gegen Abend kam er auf die Höh des Gebirgs, auf das Schneefeld, von wo man hinabstieg in die Ebene nach Westen, er setzte sich oben nieder. Es war gegen Abend ruhiger geworden; das Gewölk lag fest und unbeweglich am Himmel, so weit der Blick reichte, nichts als Gipfel, von denen sich breite Flächen hinabzogen, und alles so still, grau, dämmernd; es wurde ihm entsetzlich einsam, er war allein, ganz allein, er wollte mit sich sprechen, aber er konnte nicht, er wagte kaum zu atmen, das Biegen seines Flusses tönte wie Donner unter ihm, er musste sich niedersetzen; es fasste ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts, er war im Leeren, er riss sich auf und flog den Abhang hinunter. Es war finster geworden, Himmel und Erde verschmolzen in Eins. Es war als ginge ihm was nach, und als müsse ihn was Entsetzliches erreichen, etwas das Menschen nicht ertragen können, als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm. Endlich hörte er Stimmen, er sah Lichter, es wurde ihm leichter, man sagte ihm, er hätte noch eine halbe Stunde nach Waldbach. Er ging durch das Dorf, die Lichter schienen durch die Fenster, er sah hinein im Vorbeigehen, Kinder am Tische, alte Weiber, Mädchen, Alles ruhige, stille Gesichter, es war ihm als müsse das Licht von ihnen ausstrahlen, es ward ihm leicht, er war bald in Waldbach im Pfarrhause;

* LENZ: Erzählung von Georg Büchner (1813-1837); erschienen 1838; 1835 verfasst für die von Karl Gutzkow und Ludolf Wienbarg redigierte Zeitschrift "Deutsche Revue". Wegen des Verbots der Zeitschrift Veröffentlichung der Erzählung erst posthum; von Büchner als Quelle benutzt: Briefe des Sturm-und-Drang Dramatikers Jakob Michael Lenz (1751-1792) und ein Tagebuch des Pfarrers Johann Friedrich Oberlin aus Waldbach (im Steintal bei Straßburg); Übernahme der Texte zum Teil wörtlich, zum Teil nur leicht stilistisch redigiert. Lenz ist auf der Wanderung nach Waldbach zu dem Pfarrer Oberlin, wo er hofft, vor dem beginnenden Wahnsinn Ruhe zu finden. Büchners Lenz, der lange Zeit nur als Fragment galt, gestaltet als zentrales Motiv, dass Wirklichkeitserfahrung unabschließbar und daher zwangsläufig fragmentarisch bleiben muss.

(aus: Georg Büchner, Lenz, in: ders., Werke und Briefe. Dramen, Prosa, Briefe, Dokumente, München: dtv 2. Aufl. 1967, S.65 -66)

Raumgestaltung in erzählenden Texten (Textauswahl)
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 20.12.2023


   Arbeitsanregungen:

   Interpretieren Sie den Textauszug.

  1. Fassen Sie den Inhalt des Novellenauszugs in Form einer Inhaltsangabe zusammen..
  2. Arbeiten Sie heraus, in welcher Situation sich Lenz befindet und wie er damit umgeht.
  3. Zeigen Sie, welche Bedeutung die Raumgestaltung für die Aussage des Textes hat Bestimmen Sie dazu die Funktion des Raumes.
    Arbeiten Sie dazu heraus, welche Bewegungen, die im Raum stattfinden, diesen Raum charakterisieren. Stellen Sie dazu Textbelege in Form einer Liste zusammen.

 

 
 

 
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