Wolfgang Borchert,
Das Gewitter
Der Himmel war grün.
Und es roch nach Angst. Der Abend roch nach Bier und gebratenen
Kartoffeln. Die engen, endlosen Straßen rochen nach Menschen, Topfblumen
und offenen Schlafzimmerfenstern.
Der Himmel wurde gelb
wie Gift. Die Welt verstummte vor Beklemmung, Nur ein Riesenautobus
schnob urweltlich und asthmatisch vorbei. Er ließ eine Andeutung von
Ölgeruch in der Luft.
Die Alster erbleichte
und starrte wie ein furchtvolles Tier zwischen den Häusermassen zum
Himmel. Sie sah das Unabwendbare auf sich zukommen. Und sie erbleichte,
dass es aussah, als hätten hunderttausend Fische plötzlich ihre Bäuche
nackt nach oben gekehrt. Die Kirchtürme waren ganz nah und wie nackt.
Die Stadt duckte sich.
Auf einer Hauswand
schleimten sich zwei Schnecken in weltentrückter Gelassenheit grußlos
aneinander vorüber. Über sechs Stunden klebten sie sich gegenüber und
jede von ihnen hatte erwartet, dass die andere ausweichen würde. Dann
setzten sie sich endlich solidarisch zu gleicher Zeit in Bewegung, Und
jede machte einen dünnen, glitschigen Silberstrich an die Wand.
Aus dem vielstockigen
Haus kam kaum ein Laut. Eine Tür miaute. Und ein Kind fragte etwas.
Sonst nichts. Nur unten im Hausflur klopften zwei Herzen. Die gehörten
einem jungen Mann und einem Mädchen.
Als sich die beiden
Schnecken unter den Blicken der beiden Menschen eine Handbreit
voneinander entfernt hatten, klirrte laut und unmissverständlich ein
Fenster zu. Ein überraschender Wind jaulte auf, hob einen Fetzen Papier
auf, klöterte eine leere Konservendose gegen die Steine und jachterte
wie hundert hungrige Hunde durch die gelähmte Stadt. Riesige
Regentropfen klatschten kalt und rhythmisch auf die Straßen.
Als der erste Blitz
wie ein Riss über den Himmel ging, griff das Mädchen nach der Hand des
jungen Mannes und drückte sie gegen ihre Brust. Der Donner bellte
gereizt über den Dächern. Die beiden Menschen schlossen für Sekunden die
Augen.
Der junge Mann war ein
typischer Mann. Er wollte die so leicht gewonnene Stellung nicht nur
halten, sondern nannte das Gewitter für sich ein unverschämtes Glück.
Und er legte die andere Hand daneben und zog das ganze an sich.
Das Ganze, das
Mädchen, sah ihn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Er nickte ihr
großartig zu: Ja, das habe ich nun getan. Aber da nahm sie seine Hände
von sich ab, schnell und stumm. Und sie ihn verstand, atmete sie erregt:
Ja, du, das verstehe ich nicht. Dann lief sie in den Regen hinaus.
Der junge Mann war ein
typischer junger Mann. Er sah die unwahrscheinlich dicken, nassen
Tropfen und hob die Schulter: Nein, ich verstehe das auch nicht.
Kopfschüttelnd nahm er die eine Schnecke und backte sie wieder dahin, wo
sie vor einer Stunde gewesen war. Er wischte sich die Hand an der Hose
ab und setzte sich erschlagen auf die Treppe. Er kaute grimmig auf einem
Gummiband.
Allmählich verblassten
die Blitze. Die Donner dämpften ihre Wut. Die Alster schwatzte glucksend
mit den dicken Regentropfen. Es roch fruchtbar nach Milch und Erde. Die
Rind der Bäume war blaugrau und blank wie die Haut eines Elefanten, der
eben aus dem Fluss steigt. In einer Nebenstraße zischte ein Auto durch
Pfützen.
Der junge Mann sah
abschätzend zum Himmel. Da hin ein schmaler Mond. Der Himmel war
durchsichtig und sauber wie eine frisch geputzte Fensterscheibe. Die
Luft war seidig und die ersten Sterne stickten ein zaghaftes Muster in
die aufkommende Nacht. Man hörte die Menschen tief atmen im Schlaf. Aber
die Bäume, die Blumen und das Gras waren wach und tranken. Der letzte
Donner war so klein, als wenn ein Kind einen Stuhl rückt.
(aus: Wolfgang
Borchert, Das Gesamtwerk, Hamburg: Rowohlt 1949/2009, S.359-361)
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