Der »(radikale) Konstruktivismus hat nicht nur unser Denken über das Denken
revolutioniert, sondern hat auch in die Wissenschaften mannigfach Eingang
gefunden.
Die
Grundaussage des Konstruktivismus lautet: Jeder konstruiert
seine Wirklichkeit selbst.
Somit "erfinden" wir also - und zwar jeder für
sich - das, was wir gemeinhin Realität nennen und als etwas Objektives,
von uns Getrenntes beschreiben.
Die Grundauffassung des Konstruktivismus,
wonach uns die "Welt draußen" nur mittels Beobachtung zuteil werden kann,
hat für die menschliche Kommunikation entscheidende Bedeutung. Eigentlich,
so möchte man meinen, grenzt es an ein "Wunder", dass wir uns, über das je
im eigenen Kopf konstruierte Bild von Wirklichkeit überhaupt verständigen
können.
Wenn Wirklichkeit also nicht "objektiv existiert" (Realismus),
sondern erst in unserem Kopf entsteht, ist Wirklichkeit stets
Interpretation von Welt.
Und: Wir kommen nur deshalb miteinander in der
äußeren Welt klar, weil wir uns über unsere Interpretationen von Welt
verständigen, sie aufeinander abstimmen und uns in einem immerwährenden
Prozess darüber einigen, was wir unter Wirklichkeit verstehen.
Konstruktivismus ist, so verstanden, kein Relativismus. Er ist, wie
Rolf Schulmeister (1996, S.67)
formuliert, "keine Theorie des Seins, formuliert keine Aussagen über die
Existenz der Dinge an sich, sondern ist eine Theorie der Genese des
Wissens von den Dingen, eine genetische Erkenntnistheorie. Für den
Konstruktivismus ist Wissen kein Abbild der externen Realität, sondern
eine Funktion des Erkenntnisprozesses."
Der konstruktivistische Textbegriff
Diese allgemeinen Überlegungen zum Konstruktivismus schlagen sich auch
in der Linguistik und Textlinguistik nieder. Kein Wunder also, dass auch
der Textbegriff davon erfasst worden ist.
-
Ältere kommunikationsorientierte
Ansätze in der
▪ Textlinguistik, wie z. B.
der so genannte
prozedurale Ansatz von
R-A. de Beaugrande und W. U. Dressler (1981)
macht das, was einen Text zum Text macht - seine
Textualität -, am Text selbst fest.
-
Ein
konstruktivistischer Ansatz
kann dieser Textualität aus den oben dargestellten Gründen
keine objektive Realität zuschreiben. Der Text "existiert", um es
salopp zu sagen, nur in den Köpfen derer, die ihn
wahrnehmen oder rezipieren. So betrachtet, gibt es, radikal zu Ende
gedacht, auch keine "objektive" Möglichkeit, "objektive Textrealität" mit
bestimmten Merkmalen von Textualität zu beschreiben.
Jeder Text entsteht
im Kopf und nicht auf dem Papier, das ist die Kernaussage, die den
konstruktivistischen Textbegriff leitet.
Aufgabe der konstruktivistisch orientierten Textlinguistik ist es
daher, den dynamischen und aktiven Prozess der Textkonstruktion bei der
Textproduktion und -rezeption zu beschreiben. Denn nur in diesem Prozess,
der sich stets unter Einbezug von
Wissen und
▪
kognitiven Schemata der
Textrezipienten vollzieht, entsteht Text im Moment der Textproduktion beim
Autor und der Textrezeption beim Leser.
Wer jemals über einen Text, sei es einen
literarischen oder einen
Sachtext, diskutiert hat, weiß aus Erfahrung, dass die Verständigung über
Texte, ihren Inhalt und ihre Aussagen nur selten einvernehmlich und in
einem solchen Sinne störungsfrei verläuft.
Und dies kann eigentlich - wenn
man die konstruktivistischen Prämisse wirklich annimmt - auch gar nicht
anders sein. "Störungen" solcher Art gehören, so möchte man sagen, zum
Geschäft.
Wenn wir uns dennoch über Texte verständigen können, so liegt
das wie bei allen Facetten gelungener Kommunikation unter
konstruktivistischem Blickwinkel u. a. daran, dass
-
wir die Sprache einer bestimmten Sprachgemeinschaft sprechen bzw.
verstehen
-
wir über einen gewissen Vorrat von Wissen verfügen, den wir mit
anderen teilen, mit denen wir uns darüber verständigt haben
-
wir die Art, wie wir solches Wissen konstruieren, häufig mit
gemeinsamen Regeln konventionalisiert haben
-
wir, wenn wir einen Text für andere verfassen, schon eine
Vorstellung von den gemeinsamen Wissensbeständen haben, so dass wir unseren
Text für den oder die anderen verständlich gestalten können.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023
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