Grundlegend dafür, wie Menschen an Texte herangehen, auf der Grundlage
welcher Typisierungen sie dies tun, ist die Frage, welcher Welt
sie einen bestimmten Text zuordnen. Wie man sich dies vorzustellen kann,
hat Kirsten
Adamzik (2004, S.62ff.,
2008,
S.154ff.) mit einem "Weltenmodell"
skizziert.
Das Modell soll als ein Orientierungsrahmen verdeutlichen, dass Texte stets in eine Beziehung zu einer oder mehrerer
Welten gebracht werden.
Als
Bezugswelten spielen sie, auch wenn sie
"nicht strikt gegeneinander abgegrenzt sind," als Referenzsystem für
Texte eine entscheidende Rolle (vgl.
Adamzik 2004, S.62).
In der Literaturwissenschaft spricht man in
diesem Zusammenhang von dem
Erwartungshorizont, wie er von der Rezeptionsästhetik um »Hans
Robert Jauß (1921-1997) entwickelt worden ist. Dabei ist der Ansatz
freilich völlig anders. Die literaturwissenschaftliche
Rezeptionsforschung zielt darauf, den Erwartungshorizont als
Verstehenshorizont "aus dem Werk selbst zu rekonstruieren" (Baasner/Zens
3. Aufl. 2005, S.182) oder unter historischem Aspekt "verschiedene
Facetten des Erwartungshorizonts aus Rezeptionsdokumenten (Rezensionen,
Briefen etc.) zu extrapolieren." (ebd.)
Die Problematik gängiger Textklassifikationen
Bei der Entwicklung ihres Weltenmodells als Referenzsystem für Texte
setzt sich Adamzik mit der Problematik von wissenschaftlichen Typologien
auseinander und zeigt ihre Möglichkeiten und Grenzen bei der
Textklassifikation auf.
Dabei spricht sie sich für eine
Mehr-Ebenen-Klassifkation
aus. Diese erlaube z. B. "einen Text gleichzeitig als Zeitungstext,
politischen Text und Interview zu klassifizieren", was nach Ansicht
Adamziks dem allgemeinen Konsens entspreche, "dass man bei einer
Klassifikation von Texten mit einer einzigen Typologisierungsbasis nicht
auskommt." (Adamzik
2008, S,151)
Ihre Analyse gängiger Grob- bzw. Grundunterscheidungen
für die Gesamtheit aller Texte scheint dies zu bestätigen. Dabei gelangt
sie zum Schluss, dass "saubere Texttypologien gar nicht auf Texte,
sondern nur auf Texteigenschaften angewendet werden können." (Adamzik
2008, S.153)
Daraus folgert sie, "dass sich Typologien weniger
als Sortier- denn als Beschreibungswerkzeug eignen" (Adamzik
2008, S.153, 175, Hervorh. d. Verf.)
Die gängigen Grobunterscheidungen, die eine systematische Ordnung
in die unendliche Zahl von Texten bringen wollen, können nach Ansicht
Adamziks (2008,
S.154f.) diesen Anspruch nicht wirklich einlösen.
-
Insbesondere
die Einteilung des "Textuniversums" in literarische und
nicht-literarische Texte reicht ihrer Auffassung nicht aus, um
mit dem ihm zugrunde gelegten Kriterium des Praxis- oder
Kommunikationsbereichs der Texte eine klare Abgrenzung zu schaffen.
"Ein Text gehört", so führt sie aus, "nicht entweder in den Alltags-
oder in den Literaturbereich, daneben gibt es auch auf gleicher
Ebene offenbar noch anderes."
-
Aber auch
die Unterscheidung in fiktionale und nicht-fiktionale Texte
taugt nach ihrer Auffassung - und der Günther
Damanns (2000) - aus drei Gründen nicht dazu.
Erstens seien
literarische Texte unterschiedlich weit von der "Normalwelt"
entfernt (z.B. Märchen oder Novelle), zweitens umfasse der seit
langem übliche, erweiterte
Literaturbegriff sowohl Konsum-/Trivialliteratur und Filme,
als auch "literarische Gebrauchsformen" (z.B. Essay, Reportage) und
sogar noch "vieles andere Nicht-Fiktionale", was wie im Falle der
Gelegenheitsdichtung, der Lehrdichtung oder der Aphorismen ohnehin
schon lange zur "fiktionalen" Literatur gezählt werde. Und drittens
werde eben "nicht nur im Rahmen von Literatur Fiktionales ersonnen
bzw. der Bezug auf die als real gedachte Welt suspendiert."
Das Weltenmodell: Bezugswelten von Texten
Da
sich die klassische Zweiteilung des Textuniversums in
literarisch/fiktional vs. nicht-literarisch/Gebrauchtstexte
"sicher nicht systematisch begründen, sondern nur (disziplin)historisch
erklären" lässt, schlägt
Adamzik (2004, S.62ff.,
2008,
S.154ff.) vor, das "Kriterium, ob sich ein Text auf die reale
Welt bezieht oder nicht, bzw. die Frage, auf welche Welten Texte
sich beziehen können", zwar zur Grobunterscheidung
beizubehalten, aber das Konzept mit einem analytisch gedachten
Weltenmodell grundlegend zu verändern.
Das "Weltenmodell" von Adamzik zeigt zunächst
einmal, dass wir Menschen in einem prinzipiell offenen »Universum
(gestrichelte Linie) einzelne Welten schaffen, die uns helfen, uns in
einem uns zugänglichen Kosmos (griech. etwa
Weltordnung" im Ggs. Chaos) zu orientieren und darin zu leben.
Der Begriff Kosmos steht hier - er wird von Adamzik so nicht verwendet -
für den Bereich, der die Gesamtheit der von Menschen geschaffenen Welten
selbst dann von dem Universum abgrenzt, wenn man diesen Kosmos "nach
außen hin", zum Universum also, als durchlässig, grundsätzlich nur bedingt stabil und stets in
Bewegung und Austausch mit dem ihn umgebenden Universum betrachtet.
Als
Gesamtheit der Welten stellt er einen Orientierungs- bzw. Existenzrahmen
dar, der zwar prinzipiell offen, aber auch durch die Anzahl der Welten
und ihrer Bestandteile gleichermaßen begrenzt gedacht werden muss.
Als
ein so verstandenes Konstrukt besitzt der Kosmos aller Welten gegenüber
dem Universum (X, X, X, X,) auch keine klare Kontur. Würde man den
von diesen Welten gebildeten Kosmos in Form eines geometrisch klar
definierten Quadrates abbilden wollen, ginge damit die Vorstellung einer
klaren und abgrenzbaren, letzten Endes systematisch definierbaren
Ordnung bzw. Zuordnung einher.
Dies kann und will das "Weltenmodell" Adamziks nicht befördern. Ebenso wenig sinnvoll wäre eine Darstellung,
welche die Bereiche der einzelnen Welten mit einer Umrahmung (einem
Kreis oder einem Rechteck) oder einer Trennungslinie begrenzte. Denn
damit würde wiederum eine Vorstellung erzeugt, dass diese Welten "als
gegeneinander abgegrenzte betrachtet werden" (Adamzik 2004, S.65)
könnten, mit der Konsequenz, dass dann auch ein Text an sich oder bei
seiner Rezeption "der einen oder anderen [Welt] zugeordnet werden könnte
oder müsste." (ebd.)
Dabei stößt natürlich jede zweidimensionale Visualisierung eines
(Meta-)Prozesses
ohne punktuellen Anfang und ohne definierte Richtung schnell an seine
Grenzen. Die Vorstellung einer fortwährenden Kreierung von Bezugswelten bzw. ihrer Gegenstände
und Beziehungen ist daher schwierig.
Dies um so mehr, wenn
selbst das, was im Zuge einer irgendwie gearteten gesellschaftlichen
Konsensbildung als vergleichsweise stabil gilt, nämlich die Muster und
Schemata, mit denen wir uns in der so genannten Standardwelt bewegen,
als grundsätzlich im Fluss bzw. in Bewegung gedacht werden muss.
So
bringt schon die räumliche Anordnung der einmal konstruierten Welten,
die Mitte und das Oben und Unten, etwas in das Konzept hinein, was
dieses schon beinahe wieder aushöhlt.
Besser wäre u. U. das Weltenmodell multimedial
und digital zu visualisieren, weil damit mehr Möglichkeiten bestehen,
die Dynamik des Systems
zu verdeutlichen. So ließe sich z. B. damit zeigen, dass die sich die
Welten abhängig vom Standort des sich darin bewegenden Individuums und vielen
anderen Aspekten anders
gruppieren.
Dessen ungeachtet lässt sich mit Hilfe des Modells, das Adamzik ausdrücklich auch als ein analytisches versteht (Adamzik
2008, S.156), gut zeigen, dass sich die "Einschätzung der Bezugswelt
als vorrangige Aufgabe bei der Begegnung mit einem Text [erweist]." (Adamzik 2004, S.62)
Als "Sinndomänen" (Hauser
2004, S.150) sind die von Adamzik aufgeführten Welten
Referenzsysteme, die Menschen heranziehen, wenn sie Texte produzieren
oder rezipieren.
Sie stellen damit auf einer sehr allgemeinen gehaltenen
Ebene ▪ den (situativen) Kontext eines Textes dar.
Da die Welten aber bei Adamzik, wie Stefan
Hauser (2004,
ebd.) meint, "bei der Produktion und Rezeption von Texten bereits
etablierte Bezugsgrößen" seien, trügen sie aber "dem Umstand nicht
Rechnung, dass die Kontexte/Situationen genau die Welten sind, die durch
die Texte selbst erzeugt werden."
Die fünf Welten (s. Darstellung), mit denen man nach Ansicht
Adamziks (2008,
S.155) "rechnen" sollte, sind "grob charakterisiert entsprechend dem
grundlegenden Aktivitätstyp, den Menschen in ihnen entfalten." (Adamzik 2004, S.63)
Welt |
Merkmale
|
Standardwelt |
-
Alltagswelt
-
Welt, die in
einer bestimmten Gesellschaft/Kultur gemeinhin als "real"
angesehen wird ("Jedermannsbewusstsein"
(Berger/Luckmann
1966/1980, S.26, zit. n.
Adamzik 2004, S.63)
-
umfasst auch
Dinge, die "dem Verstand des gesellschaftlichen
Normalverbrauchers" (Berger/Luckmann
1966/1980, S.21, zit. n.
Adamzik 2004, S.63)
nicht zugänglich sind, "insbesondere das Wissen um das
Funktionieren diverser gesellschaftlicher Institutionen und
die (inzwischen sehr komplexe) Organisation der Gesellschaft
insgesamt." (Adamzik 2004, S.63)
-
Menschen
akzeptieren somit auch Unbekanntes in der Standardwelt und
ziehen dessen Wirklichkeit nicht in Zweifel ("Bedingung
der fraglosen Gegebenheit") (ebd.)
-
um in der
Alltagwelt routiniert agieren zu können, müssen Muster
und Schemata erworben werden, mit denen man sich in den
scheinbar unabhängig von der eigenen Erfahrung vorhandenen
Objekten dieser Welt orientieren kann (vgl.
ebd.)
|
Welt des Spiels/der Fantasie |
-
Kunstwerke
unterschiedlicher "Schöpfungshöhe", darunter auch
literarische Texte (Belletristik) mit einem mehr
oder weniger hohen Niveau (vgl.
ebd.)
-
auch Kinder
kreieren schon Fantasiewelten und agieren in diesen (vgl.
ebd., S.156)
|
Welt des Übersinnlichen |
-
"Glaubenssache",
d. h. viele Menschen und auch Gesellschaften glauben nicht
an die Existenz des Übersinnlichen, andere dagegen sind von
der Existenz dieser Welt völlig überzeugt (vgl.
Adamzik
2008, S.156)
-
So wie es
Lebensweisen gibt, die sich in dieser Welt situieren, gibt
es auch Texte, die sich auf diese Welt beziehen. (vgl.
ebd.)
-
je nach
Zeitepoche oder auch Kultur liegt sie der jeweiligen
Standardwelt näher, wird unter Umständen "sogar als ein Teil
von ihr aufgefasst, wenn man etwa die Existenz Gottes als
Faktum akzeptiert" (Adamzik 2004, S.64),
was sich mit der Vernunft eben nicht in Frage stellen lässt.
|
Welt der Wissenschaft |
-
"Welt, in der
mögliche Welten (in der Philosophie schon seit langem
geläufig) gedanklich konstruiert werden" (ebd.)
-
Stellenwert und
Bedeutung hängt stark von der jeweiligen Gesellschaft ab
(vgl.
Adamzik
2008, S.156)
-
in
säkularisierten, verweltlichten Gesellschaften enge
Verbindung mit der Standardwelt; häufig werden durch den
Verweis auf diese Welt (z. B. "▪ Das
ist wissenschaftlich erwiesen") bestimmte Inhalte "in
orthodoxer Manier der Standardwelt zugerechnet oder aus ihr
ausgeschlossen, wies es früher mit Glaubensinhalten
geschah." (ebd.);
so sollen problematische Inhalte oder komplexe
Zusammenhänge, die sich einem "Jedermannsbewusstsein"
nicht unmittelbar erschließen (können), als
fraglose
Gegebenheit ausgewiesen werden (vgl.
▪Killerphrase)
|
Welt der individuellen
Sinnfindung |
-
individuelles
Bezugssystem, das auf die anderen Welten mehr oder weniger
zurückgreift, aber zugleich auch Vorstellungen,
Sachverhalte, Werte und Aussagen enthält, die nur für den
einzelnen gelten, für andere aber u. U. keinen Sinn haben
(vgl.
ebd.);
-
dynamisches
System, das sich im Verlauf eines Lebens immer wieder stark
verändern kann (vgl.
ebd.);
-
sie kann in
unterschiedlicher Nähe zu den anderen Welten stehen; z. B.
kann man das, was dem eigenen Leben Sinn geben soll, einfach
aus der Welt des Übersinnlichen beziehen und der eigenen
Welt der Sinnfindung entsprechend anpassen; man kann aber
auch, wenn man z. B. seinen Lebenssinn allein oder
hauptsächlich darin sieht, in der Standardwelt beruflichen
Erfolg, einen schönen Körper zu haben oder einfach möglichst
lang gesund zu bleiben, oder gar einfach nur "Spaß" zu haben
(Welt des Spiels/der Fantasie), die Standardwelt mit der
Welt der individuellen Sinnfindung in eins setzen (vgl. Adamzik 2004, S.65)
|
Wenn Texte bei ihrer Rezeption auf bestimmte Welten
bezogen werden, dann geschieht dies meistens nicht nur auf eine einzige
der hier dargestellten Welten.
Aber es gibt auch Texte, die "wenigstens üblicherweise" nur auf eine Welt "referenzieren", sich
also im Allgemeinen nur auf eine Welt beziehen. Dies ist gewöhnlich die
Standardwelt, die vor allem für Gebrauchstexte, wie z. B.
Gebrauchsanweisungen, Mietverträge, Gesetzestexte u. ä., die
Standardbezugswelt bzw. primäre Bezugswelt darstellt.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023
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